Von Heinrich-Böll-Stiftung - Flickr: Prof. Dr. Ralf Schnell, Rektor Uni Siegen, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12476225

Der Pazifizierer

Professor Ralf Schnell, bis vor Kurzem Rektor der Universität, hat sich viel vorgenommen für seine Zeit nach Siegen. Im Gespräch mit Anke Bliedtner und David Schmidt zieht er Bilanz und spricht über seine Projekte.

Erschienen in fool on the hill Nr. 12 (2009)

Fool: Herr Schnell, was waren die größten Erfolge Ihres Rektorats in den vergangenen dreieinhalb Jahren? Was ist Ihnen besonders gut gelungen, worauf sind Sie stolz?

Ralf Schnell: Was, denke ich, gut gelungen ist, ohne dass ich das als Unbescheidenheit verstanden wissen möchte, ist zuerst einmal die Herstellung einer arbeitsfähigen, einer produktiven Atmosphäre innerhalb der Universität. Denn es gab, als ich im April 2006 das Amt antrat, eine wirklich polarisierte Universitätsöffentlichkeit, die sich geradezu in feindliche Lager gespalten hatte. Nicht allein im Hinblick auf die unterschiedlichen Fachbereichskulturen, sondern auch im Hinblick auf politische Fraktionierungen. Und das ist, glaube ich, mir und diesem Rektorat gelungen: die Klüfte, die Dissonanzen, die in der Universität unter dem Vorgängerrektorat entstanden waren, aufzuheben, aufzufüllen, falsche Gegensätze und persönliche Animositäten soweit zu beheben, dass es am Ende wieder möglich war, produktiv miteinander zu arbeiten und gemeinsam in die Zukunft der Universität zu blicken. Außerdem waren wir neben diesen Aufräumarbeiten schon zu Beginn dieses Rektorats mit zwei Gesetzesvorhaben konfrontiert. Zum einen mit dem Hochschulfreiheitsgesetz, das umgesetzt werden musste in Universitätswirklichkeit. Die akademischen Institutionen mussten zum Beispiel auf die neuen gesetzlichen Erfordernisse genau abgestimmt werden. Und zweitens gab es natürlich die Einführung der Studienbeiträge, auch das hat ja anfangs zu erheblichen Verwerfungen geführt. Und ich denke, auch da ist es uns zuletzt gelungen, mit den Studierenden gemeinsam die größten und gröbsten konfrontativen Stimmungen aus der Universität wieder herauszubekommen. Während der Rektoratsbesetzung habe ich mich persönlich, gemeinsam mit dem Kanzler,bis in die Nächte darum bemüht, mit den Studierenden im Gespräch zu bleiben und am Ende einen Kompromiss zu erzielen – das ist auch gelungen. Wir haben uns dann zum Teil vor Gericht auseinandersetzen müssen. Die Positionen des Rektorats sind von den gerichtlichen Instanzen für rechtens befunden worden. Ich denke, am Ende bleibt auf Seiten der Studierenden – verständlicherweise und auch für mich nachvollziehbar – eine politische Empörung darüber, dass so etwas in NRW möglich war. So ist es nun aber, und ich denke, dass wir uns daran gewöhnen werden und damit umgehen müssen. Das waren, glaube ich, die großen Hürden dieses Rektorats: diese beiden Gesetzesvorhaben so umzusetzen, dass am Ende daraus keine dauerhaften Konfrontationen entstanden sind. Und das dritte, was dem Rektorat und allen an der Sache Beteiligten wohl auch gelungen ist: die schlechte Drittmittelbilanz der Universität wieder aufzubessern, und zwar im Zusammenspiel mit einer ganz engagierten Forschungsförderungspolitik. Das haben wir gemacht, indem wir hochschuleigene Research Schools eingerichtet haben. Zu diesem Zweck haben wir Anreize zu Forschungsaktivitäten geschaffen. Das alles hat am Ende dazu geführt, dass Drittmittel in bislang nicht gekannter Höhe eingeworben wurden, so dass wir wirklich sagen können, wir stehen heute gut da, finanziell sehr viel besser als vor drei Jahren.

Ist das für alle Fachbereiche der Fall?

Nein, das ist von Fachbereich zu Fachbereich unterschiedlich. Einige naturwissenschaftlich-technische sind da natürlich privilegierter als andere, weil sie ganz andere Dimensionen an Mitteln einwerben. Aber es gibt eben auch Forschungsaktivitäten in den kultur- und geisteswissenschaftlichen Fachbereichen, die Anträge etwa bei der DFG gestellt haben, zum Teil als Einzelanträge, die auch erfolgreich beschieden worden sind. Ingesamt gibt es jedenfalls, glaube ich, eine gute Bilanz. Die Universität Siegen kann ihre Zukunft auf einem soliden Fundament aufbauen. Das heißt, wir können sowohl was die künftige Beteiligung an der Exzellenzinitiative als auch was die weitere Forschungsförderung angeht, positiv in die Zukunft schauen. Und noch etwas möchte ich sagen, was mir ganz wichtig ist. Wir haben uns nach der misslungenen Rektorwahl durch den Hochschulrat bereit erklärt, weiter zu amtieren. Ich habe das auch persönlich für wichtig gehalten, um die Universität voran zu bringen. Und wir haben in diesem einen Jahr ein ganz entscheidendes und wichtiges Projekt vorangebracht, nämlich das Hochschulentwicklungskonzept, das einstimmig von Senat und Hochschulrat verabschiedet worden ist. Damit haben wir die programmatischen und allgemeinen Grundlagen für die nächsten Jahre gelegt, auf denen das neue Rektorat nun aufbauen kann, um diese weiterzuentwickeln, umzusetzen, die es natürlich auch modifizieren wird und muss. Aber am Ende wird es so sein, dass ein konsensuelles Modell und Programm gefunden wird, das der Universität Siegen die Zukunft sichert.

Das Absägen des Sonderforschungsbereichs Medienumbrüche im Sommer 2009 durch die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) kam einer Katastrophe gleich. Wie schätzen Sie diese Entscheidung ein? Das muss ja in puncto Drittmitteleinwerbung ein Rückschlag gewesen sein.

Ja, zweifellos. Zunächst einmal war es eine große Enttäuschung, in der Tat ein Desaster für einerseits die Medienforschung an der Universität, die eine sehr lange und alte und hochqualifizierte Tradition hat, dann aber natürlich auch insgesamt für die Forschungspolitik. Es ist aber nicht alles verloren gegangen. Die Kernbereiche sind erhalten geblieben, fünf Teilprojekte des alten Antrags haben große Aussicht auf Erfolg bei der DFG. Ihr Paketantrag ist mittlerweile positiv beschieden worden, wenn auch nicht in dem von den Antragstellern gewünschten Umfang, aber der Kern der Medienforschung bleibt erhalten. Die Medienforschung an der Universität Siegen wird sich jetzt ein wenig zurückziehen und das Jahr 2010 dafür nutzen, über die weitere Profilbildung nachzudenken. Und im Jahr 2011 wird dann sicherlich wieder ein bewilligungsfähiger Antrag auf einen neuen Sonderforschungsbereich eingereicht werden.

Was meinen Sie denn, wo die Gründe dafür lagen, dass die DFG einem so großen und bisher auch erfolgreichen Projekt wie dem Forschungsbereich Medienumbrüche die Förderung verweigert hat? Natürlich gab es die als exzellent bewerteten Projekte, die sich mittlerweile auch im Rahmen eines Paketantrages erneut bei der DFG um Förderung beworben haben, aber das sind dennoch immense Einschnitte.

Ich halte einen Teil der Gründe für hausgemacht, deswegen nämlich, weil das Antragsprofil nicht scharf genug zugeschnitten war. Hinterher ist man natürlich immer klüger, aber man hätte vielleicht etwas restriktiver arbeiten müssen, so dass das Profil klarer hervorgetreten wäre.

Möchten Sie das genauer benennen?

Nein. Da möchte ich nicht nachtreten und auch nicht personalisieren. Das möchte ich auf keinen Fall. Aber ganz sicher hätte manches noch im Profil schärfer konturiert werden können. Auch waren die Anträge nicht alle auf einem sehr guten oder exzellenten Niveau, einige lagen ein wenig darunter. Und das ist dann schwierig, wenn man sehen muss, dass – jetzt der dritte Grund – die Konkurrenz erheblich gewachsen ist. Die DFG hat natürlich nur ein bestimmtes Volumen, und am Ende wird nach einer bestimmten Rangfolge und Reihenfolge entschieden. Wenn dann die eigenen Anträge nicht gut genug durchdacht sind, kommt man eben nicht zum Zuge. Andererseits muss man aber den Antragstellern zu Gute halten, dass sie damit rechnen durften, dass die DFG ihr Projekt schon aufgrund der Tradition exzellentester Medienforschung an dieser Universität honorieren würde. Das ist eine Politik, die die DFG gegenüber den Kulturwissenschaftlern in den letzten Jahren nicht sehr nachdrücklich verfolgt hat, so dass man sagen muss, es gibt auch eine berechtigte Enttäuschung darüber, dass die DFG so entschieden hat. Die Kollegen und Kolleginnen werden diese Enttäuschung als Herausforderung verstehen und sich mit neuen Inhalten und einem neuem Profil in zwei Jahren neu präsentieren.

Es ist uns gelungen, trotz der Einführung der Studiengebühren am Ende wieder eine pazifizierte Atmosphäre herzustellen.

Wenn ich vorhin nach den Erfolgen Ihres Rektorats fragte, möchte ich nun natürlich auch wissen, was Ihnen denn nicht so gut gelungen ist?

Ich bedauere natürlich die Entwicklung, die es im vergangenen Jahr im Zusammenhang der Aktivitäten des Hochschulrats gegeben hat und möchte sagen: Das ist zwar nicht mein persönlicher Misserfolg, aber es hat doch das, was ich vorhatte, nämlich diese Universität zumindest eine gewisse Zeit lang weiter zu führen, torpediert. Und ich denke, das hat auch innerhalb der Universität zu einigen Irritationen geführt, die sich am Ende wiederum positiv ausgewirkt haben. Dadurch, dass der Senat gesagt hat: Das lassen wir uns so nicht bieten, musste ein völlig neues Verfahren in Gang kommen. Das ist das, was mir neben der Ablehnung des Sonderforschungsbereichs durch die DFG am meisten missfallen hat.

Noch einmal zu den Ereignissen im letzten Jahr. Als ich das miterlebt habe und man beobachten konnte, wie der Senat couragiert eingriff und sich gegen die Entscheidung des Hochschulrates aussprach, da war ich stolz auf die Uni…

Ja, mit Recht!

…und darauf, wie der Senat zusammensteht. Und ich kann mir gut vorstellen, dass Sie als Rektor und auch als Person stolz gewesen sind und sich unterstützt gefühlt haben. Trotzdem haben Sie sich dagegen entschieden noch einmal für das Rektorat zu kandidieren. Warum?

Ich habe mich in der Tat unterstützt gesehen. Die klare Positionsnahme der Senatsmitglieder war einerseits eine, die sich gegen das Verfahren richtete, und andererseits eine, die sich positiv an mich adressierte. Es war erkennbar, dass ich große Chancen hatte, wieder gewählt zu werden, und zwar mit einer deutlichen Mehrheit. So habe ich das auch verstanden. Warum ich dann nicht noch einmal kandidiert habe, liegt auf der Hand: Man lässt so etwas nur einmal mit sich machen – und nie wieder. Sie müssen sich auch klar machen, dass ich von den Mitgliedern des Hochschulrats nicht informiert worden bin über das, was sich dort abzeichnete. Das hab ich nicht verstanden. Das ist schlechter Stil. So etwas macht man nicht, nicht mit dem amtierenden Rektor einer deutschen Universität und schon gar nicht mit der Person Ralf Schnell. Wäre ich noch einmal angetreten, dann hätte ich mit diesen Mitgliedern des Hochschulrats, die sich mir gegenüber so verhalten haben, noch einmal für sechs Jahre zusammen arbeiten müssen, und dazu fehlte mir jedwede Motivation.

Wo sehen Sie die Universität in zehn Jahren?

Das sind Fragen, die man lieber nicht beantwortet, weil man ja irgendwann die Dummheiten vorgelegt bekommt, die man vor zehn Jahren gesagt hat. Ich gehe aber davon aus, dass die Universität Siegen auch unter Berücksichtigung der demografischen Aspekte, des Rückgangs, was die Studierendenzahlen angeht, dennoch ihre Position behaupten kann. Zum einen dadurch, dass sie vorzüglich regional vernetzt ist und das auch weiter ausbauen wird. Und zum anderen dadurch, dass sie Studierende auch international einwerben wird. Wir haben jetzt zwei Außenbüros: eines in Beijing, und eines ist in Shanghai geplant. Wir werden diese Aktivitäten weiter ausdehnen. Ich gehe davon aus, dass das am Ende auch zum Erfolg führen wird. Und dann kommt die Forschungsförderung hinzu und die Fortsetzung entsprechender Projekte. Die Drittmitteleinwerbung kann sehr erfolgreich werden im Bereich der von der DFG verantworteten Exzellenzinitiative. Ich denke, dass die Uni sehr gute Zukunftschancen besitzt, zumal sie ein wirklich vorzügliches Qualitätskonzept Lehre entwickelt hat, das die Studierenden anspricht. Das sieht man ja jetzt bereits an der Nachfrage der Studierenden in diesem Semester trotz der Einführung der Studiengebühren, dass die alten Unkenrufe nicht getragen haben, die von Seiten der Studenten natürlich in berechtigter Absicht vorgetragen wurden. Die Studierenden kommen weiter nach Siegen in ganz erheblichem Maße. Und wir freuen uns darüber. Die fortdauernde Existenz der Uni halte ich für gesichert. Und das ist das, was ich verantwortlich sagen kann über die Situation, wie sie sich mir in zehn Jahren darstellt.

Durch die Einführung der Studiengebühren 2006 haben Sie sich damals zum Gegner der studentischen Protestgruppen gemacht. Inzwischen kann man davon reden, dass eine Art Versöhnung stattgefunden hat. Auch aus Gesprächen mit Vertretern des ehemaligen AStAs geht das hervor. Aber gehen wir noch mal zurück zum Jahr 2006. Da haben Sie betont, dass Sie selbst ein Gegner von Studiengebühren seien. Jetzt hat mich irritiert, dass Sie vorhin, als wir nach den Erfolgen Ihres Rektorats gefragt haben, die Studiengebühreneinführung mit aufgezählt haben.

Nein, ich habe nicht die Studiengebühren als Erfolg gefeiert. Um Himmels Willen! Das ist ein Missverständnis. Sondern ich habe gesagt: Dass es uns gelungen ist, trotz der Einführung der Studiengebühren nach diesem Gesetz am Ende wieder eine pazifizierte Atmosphäre herzustellen – das ist der Erfolg.

Forschung und auch Lehre sind das, was ich in den letzten Jahren am meisten vermisst habe.

Hätte denn, Ihrer Meinung nach, ein breiteres Engagement seitens der Studierenden damals die Einführung von Studiengebühren verhindern können?

Es ist schwierig, im Konjunktiv rückblickend zu sprechen. Es hat nicht geklappt, und das hat sicherlich damit zu tun, dass die Studierenden gar nicht einer Meinung waren. Es gibt durchaus an der Universität Siegen Studierende in einzelnen Fachbereichen, die kein Problem damit haben oder Studiengebühren sogar für berechtigt ansehen. Es gab also keine Einheitsfront der Studierenden. Es gibt aber heute auch eine Generation von Studierenden, die sich nicht unbedingt eben mal schnell zu politischen Aktionen aufrufen oder über sich verfügen lassen. Sie konnten das erkennen, als damals 2006 in Düsseldorf eine Demonstration mit mindestens 5.000 Studierenden angekündigt wurde und am Ende nur 500 da waren, wenn es hochkam. 500 von ich weiß nicht wie vielen Hunderttausend in NRW! Daran kann man erkennen, dass es da in der Tat nicht eine gemeinsame, eine einzige Sprache und nicht ein gemeinsames Denken gab, und vor allem, dass auch die entsprechende Motivation, die entsprechende Aktivität, die entsprechenden Herausforderungen, der Impuls nicht vorhanden waren. In Hessen war das bekanntlich anders. Hier ist es eben so gewesen.

Bleiben wir gerade dabei. Sie gehören zur Generation der 68er. Hat Sie das enttäuscht? Hätten Sie sich mehr Engagement erwartet von den Studenten?

Ich will es nicht auf die Einführung der Studiengebühren reduzieren, sondern ich möchte umgekehrt sagen: Ich habe mir manches Mal, seit ich in Siegen an der Universität bin, seit 1997, schon ein schärferes Engagement der Studierenden gewünscht. Ich habe mir auch manches mal eine etwas impulsivere und engagiertere Teilnahme an Seminarsdiskussionen gewünscht. Und ich hätte mir manches Mal gewünscht, dass sich die verfasste Studierendenschaft etwas profilierter dargestellt hätte, etwas glaubwürdiger aufgetreten wäre. Das ist keineswegs als Kritik an den Studierenden zu verstehen, denn ich kann nicht an Mentalitäten herumkritisieren, die nun einmal so existieren, wie sie existieren. Ich will nur sagen: Im Jahr 1968 hätte sich kein Mensch getraut Studiengebühren einzuführen. Es wäre ein Desaster geworden, ganz sicher. Ich hab’ ja in Berlin studiert – das hätte die ganze Stadt zur Explosion gebracht. Das ist heute anders, das muss man zur Kenntnis nehmen. Es ist so, wie es ist. Man kann das bedauern oder auch nicht. Aber man kann es ganz sicher nicht kritisieren, sondern muss damit umgehen.

Sie sagten gerade, dabei ginge es Ihnen nicht nur um die Einführung der Studiengebühren. War das eine Anspielung auf den Bologna-Prozess, die Einführung von BA/MAStudiengängen?

Ich sehe das mit BA/MA sehr ambivalent. Ich denke, es gibt zwei gute Gründe für die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Der eine Grund ist, dass es in den Kulturwissenschaften Abbrecherquoten von bis zu 70% gibt. Da, muss man sagen, ist ein Modell gescheitert, nämlich das des alten Magister Artium, den ich selber gemacht habe. Aber wenn Studierende in diesen Bereichen bis zu 70% das Studium abbrechen, dann ist etwas falsch, dann muss man umkehren, neu nachdenken und andere Formen, auch der Beanspruchung und auch der Zertifizierung, bieten. Insofern gibt es ein gutes Argument für die Bachelorstudiengänge und dann erst recht, wenn sie auch konsekutiv gedacht sind, das heißt, sich im Regelfall ein MA-Studiengang anschließt. Das zweite Argument, was für den Bachelor spricht, ist die internationale Kompatibilität. Ich weiß, dass sich das so bisher nicht bewährt hat, aber der Gedanke war von Anfang an mitgedacht, dass man international anschlussfähige Studiengänge schafft. Da kann man nicht immer schon gleich verlangen, dass alles nach einem halben Jahr funktioniert. Man muss Erfahrungen sammeln dürfen, man muss Revisionen vornehmen können. Andererseits: Die Bachelorstudiengänge müssen, meines Erachtens, dringend entrümpelt werden. Die Studierenden müssen befreit werden, auch mal wieder denken zu dürfen, auch mal wieder lesen zu dürfen, auch mal eine Zeit der produktiven Muße einzulegen. Das ist alles nicht vorgesehen – das muss verändert werden. Und man muss bessere Anpassungen schaffen im Bereich der Internationalisierung. Auch vieles andere leuchtet mir nach wie vor nicht ein. Dazu gehört zum Beispiel die Verschulung des Studiums, dazu gehört die Überlastung in den Modulen, dazu gehört auch die Überlastung der Lehrkräfte durch Prüfungen und durch die Präsenzkontrolle und dergleichen mehr. Alles das sind Dinge, die ich nicht für gut halte. Ich will gar nicht immer wieder nach Wilhelm von Humboldt rufen, wie das alle an dieser Stelle machen, aber ich will doch sagen: Eine Modernisierung, eine fällige Modernisierung des Studiums hätte hochschulpolitisch ein wenig sensibler erfolgen müssen.

Stichwort Internationalisierung. Hat der Austausch von Studierenden auch international nicht vorher schon gut funktioniert?

Internationalisierung gibt es schon seit Jahrzehnten, das weiß ich auch. Aber die nachprüfbaren Erfolge, die haben natürlich erst eingesetzt, seitdem es Erasmus Mundus, Sokrates und solche Programme gibt, die wiederum nicht isoliert von dem Bologna-Prozess zu denken sind. Das alles hängt miteinander zusammen. Und ich denke, dass da auch eine ganze Menge Impulse gegeben worden sind, angestoßen worden sind, Aktivitäten auch von Seiten der Auslandsämter, die gut mit diesem Programmen und den staatlichen Förderinstitutionen zusammen gearbeitet haben. Das war und ist weiterhin notwendig, aber dazu braucht es natürlich auch eine Abstimmung mit den anderen Ländern. Also, ich denke, dass das auf einem guten Weg ist und nach den ersten Eierschalen, die wir noch hinter den Ohren haben, sehr viel dabei herauskommen wird.

Freunde, Bekannte von Ihnen beschreiben Sie oft als stilvoll, stilsicher, als Diplomaten. Würden Sie sich auch selbst als jemanden sehen, dem guter Stil sehr am Herzen liegt?

Stil, ja – aber nicht als eine Äußerlichkeit verstanden. Es gibt ein schönes Wort von Buffon, das Heinrich Heine gelegentlich zitiert: „Le style, c’est l’homme même.“ Meistens wird es nur zitiert als „Le style, c’est l’homme“. ‚l’homme même’ aber heißt ‚der ganze Mann’, ‚der Mensch selbst’. Und so verstehe ich das in der Tat: wie Sie sich kleiden, wie Sie sich ausdrücken, wie Sie auftreten, wie Sie mit den Menschen umgehen; wie Sie die Gegenstände, mit denen Sie zu tun haben, privat oder beruflich, handhaben, ernst nehmen, voran treiben; auch natürlich die Frage, ob Sie Selbstdistanz und Selbstkritik üben können oder sogar Selbstironie; und ob Sie überhaupt eine Art von Humor und Ironie in Ihrem Verhältnis zu Ihrer eigenen Person zur Geltung bringen. Das würde ich als Stil definieren. Ob ich dem nun selbst gerecht werde, das kann ich nicht beurteilen, da bin ich zu nah an mir dran. Aber als Selbstanspruch an mich – in der Tat.

Wo ist denn für Sie Heimat?

Meine Heimat ist der Rest der Welt. Ich bin Kosmopolit. 

Siegen nicht?

Ich habe in Siegen gute Freunde. Ich habe hier eine vorzügliche Arbeitsatmosphäre vorgefunden. Ich habe mich hier auch sehr engagiert. Meine Heimat, wenn Sie so wollen, ist von der Geburt her Oldenburg. Dann war ich lange Jahre in Berlin, 15 Jahre in Hannover, zehn Jahre in Tokio und jetzt zwölf Jahre in Siegen. Ich habe mehrere Heimaten. Ich fühle mich an verschiedenen Orten wohl. Und ich kann auch ziemlich genau beschreiben, was meine Kriterien dafür sind. Das ist die Arbeit und die Arbeitsatmosphäre, das sind die Freunde, die man hat und am Ende auch das kulturelle Umfeld. Insofern kann ich sagen: Ich habe hier in Siegen auch eine Art Heimat gefunden. Aber ich werde meine Zelte in Siegen jetzt abbrechen und nach Berlin gehen. Das heißt nicht, dass ich die guten Kontakte, die Freundschaften, die ich hier habe, abbreche, natürlich nicht. Aber es heißt, dass ich meinen Lebensmittelpunkt verändere, weil ich gern ein paar anderen Dingen nachgehen möchte, die ich hier nicht habe realisieren können: persönliche Projekte, Schreibprojekte, vor allem auch Forschungs- und Buchprojekte. Dann möchte ich natürlich in Berlin auch ein bisschen mehr Kultur und ein anderes kulturelles Umfeld genießen, als ich das in Siegen kann. Das liegt auf der Hand. Ich habe außerdem einen Teil meiner Familie dort und gute Freunde. Das alles ist anregend genug, ganz abgesehen von der Stadt Berlin, die attraktiv ist und in der ich immer gern gelebt habe.

Sind Sie froh, zur Forschung zurückkehren zu können?

Ja, darauf freue ich mich. Forschung und auch Lehre sind das, was ich in den letzten Jahren am meisten vermisst habe.

Wird es denn Lehre geben in den folgenden Jahren?

Nein, das ist jetzt abgeschlossen. Ich wollte nur sagen, ich hätte gerne weiter gelehrt, auch neben meinem Amt als Rektor, Vorlesungen vor allem gerne weiter gehalten. Ich konnte das aber nicht mehr, weil die Prüfungsverpflichtungen dabei gewesen wären, und das war nicht zu schaffen.

Warum sind Sie überhaupt Rektor geworden? Ihre Leidenschaft gilt doch ganz eindeutig der Literatur.

Das hing zusammen mit der Verfassung der Universität, dem Zustand der Universität Ende des Jahres 2005. Ich wusste, das geht so nicht weiter. Wenn du das aber doch weißt, habe ich mir gesagt, dann kannst du nicht einfach nur sagen, das darf nicht so sein, sondern dann musst du dich auch engagieren. Und deswegen habe ich das angenommen. Das war nicht einmal eine Entscheidung aus Idealismus, sondern das war ganz egoistisch. Ich wollte, dass diese Universität, an der ich tätig bin, anders aussieht, als sie es zu diesem Zeitpunkt tat.

Ein Wechsel an eine andere Uni kam nicht in Frage?

Nein, ich hatte ohnehin nur noch kurze Zeit vor mir, und ich wollte mich nicht noch einmal weg bewerben. Ich wollte hier arbeiten und hier eine gute Arbeitsatmosphäre finden und auch schaffen.

Wofür haben Sie denn das Umfeld der Universität Siegen, und natürlich die Universität selbst, immer geschätzt?

Besonders geschätzt habe ich die vorzügliche Arbeitsatmosphäre im Fachbereich 3, Sprach-, Literaturund Medienwissenschaften, wo ein außerordentlich freundlicher, respektvoller Umgang unter den Kollegen herrscht. Dann vor allem aber auch die Möglichkeit, in anderen Fachbereichen zu kommunizieren, mit Kollegen Projekte zu entwickeln, transdisziplinär zu arbeiten. Besonders geschätzt habe ich an dieser Universität, dass sie eine Universität der kurzen Wege und der raschen Abstimmungen ist – das hat sich, glaube ich, bewährt. Und dann denke ich, dass es möglich ist, vielleicht aber auch erst als Rektor, sehr viel in die Stadt hineinzubewegen und für die Stadt zu tun, und von dort auch wieder Impulse zurückzubekommen. Die poetry@rubens-Reihe, ebenso die Rubens lectures, vorher auch schon Lesungen et cetera, auch das Theater, das hier in der Stadt eine große Rolle spielt – alles das ist nur durch die Universität und mit ihr entstanden. Nur die Universität hat die Kompetenzen dafür, und das kann man weiter ausbauen. Ich glaube, es ist wichtig, die Stadt und die Universität über das Medium der Kultur miteinander zu vernetzen. Darüber hinaus haben wir natürlich bereits vielfältige Vernetzungen und Verankerungen im Bereich der projektorientierten, anwendungsbezogenen Forschung mit Unter- nehmen aus der Region, wo ich sagen darf: Da gibt es sehr viel Sympathie für die Universität.

Einen der wichtigsten Lehrstühle in der Germanistik in Siegen hielt vor Ihnen Helmut Kreuzer, mit Ihrem Nachfolger auf diesem Lehrstuhl, Prof. Niels Werber, dürften Sie ja relativ zufrieden sein, Stichwort: fachbereichsübergreifende Forschung…

Ich kann das mit einem Wort sagen. Ich habe mich als Rektor persönlich dafür eingesetzt, dass Herr Werber an die Universität Siegen gekommen ist.

Herr Prof. Kühnel ist einen Monat vor Ihnen gegangen. Auch er hat seine Zelte in Siegen abgebrochen und meinte, er hätte noch einige Projekte in der Mache, um die er sich kümmern will. Welche Themenfelder, Schwerpunkte wollen Sie in Ihren neuen Projekten setzen?

Ich werde eine Literaturgeschichte schreiben, eine Geschichte der deutschsprachigen Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart. Ich werde ferner einen Essay schreiben, Stichwort ‚Empedokles’ – das ist der alte sizilianische Naturphilosoph, der in fragmentarischer Form Schriften hinterlassen hat, die Gegenstand einer Tragödie von Hölderlin geworden sind. Seine Tragödie, die es in drei Fassungen fragmentarisch gibt, ist wiederum zum Teil verfilmt worden von dem Filmemacherpaar Straub/Huillet. Mit diesen unterschiedlichen Formen und Medien der Annäherung an die Natur, des Naturverhältnisses über ein Jahrtausend hinweg und dem Blick von heute, mit unserem Naturverhältnis, würde ich mich gern auseinander setzen. Dann will ich noch ein Buch schreiben über Literatur im Rahmen einer Reihe, die bei Reclam erscheint, die Reihe ‚Grundwissen Philosophie’. Da bin ich im wissenschaftlichen Beirat und werde innerhalb dieser Reihe einen Band ‚Literatur’ schreiben. Und dann plane ich schon seit langem, das konnte ich bislang nicht realisieren, einen Roman über Japan mit dem Titel „Das Jahr der Schlange“. Dazu hab ich Material gesammelt. Und dann bin ich immer noch schuldig: ein Kinderbuch. Dazu erzähle ich aber noch nichts.

Werden Sie in Berlin bleiben?

Soweit ich sehen kann, ja.

Nicht wieder ins Ausland, nicht nach Japan?

Besuchsweise ja. Den Japanroman schreiben, von dem ich eben sprach, kann ich nur in Tokio.

Die Nobelpreise wurden vor kurzem vergeben. Seit einigen Jahren, wie auch dieses Jahr wird ein Name immer wieder hochgespült in der Diskussion: Bob Dylan. Was war denn Ihr Tipp für den Literaturnobelpreis?

Bob Dylan wäre so klug gewesen, das abzulehnen. Er hat selbst gesagt: Das ist, glaube ich, nicht mein Format. Und ich denke, er hat Recht. Ich weiß, dass es die Forderung nach einem Preis für Dylan schon lange gibt. Seine Texte sind hinreißend, sein Vortrag überwältigend, er selbst als Figur ungeheuer attraktiv, keine Frage. Aber er arbeitet auf einem anderen Sektor, dem, sagen wir mal, der Performance und des Entertainments.

Er ist kein Literat?

Er kann nicht – es heißt ja nicht ohne Grund im Englischen ‚lyrics’, was er vorträgt – er kann nicht ohne Sprache und ohne poetische Qualitäten auskommen. Aber er bewegt sich in einem ganz anderen medialen Raum, als es die Autoren von Büchern tun. Ich schätze ihn außerordentlich, hielte es aber dennoch für falsch, ihn bei der falschen Adresse zu empfehlen. Ich für meine Person würde, was den Literaturnobelpreis angeht – Sie fragen ja sicherlich nach deutschen Autoren –, Hans Magnus Enzensberger vorschlagen, der, wie ich finde, auf eine Weise ein Intellektueller, ein Poet, ein Kosmopolit ist, die singulär ist in der Kombination all dieser Facetten von kultureller Präsenz. Das wäre mein Favorit, wenn ich von deutschsprachigen Autoren sprechen sollte.

Was lesen Sie denn gerade? Womit beschäftigen Sie sich zur Zeit?

Wenn Sie mich jetzt nach gerade diesem historischen Augenblick fragen: Ich habe soeben ein Buch von Robert Neumann ausgelesen: „Der Tatbestand oder der gute Glaube des Deutschen“, weil bei mir eine Habilitationsschrift zu Robert Neumann entsteht. Jetzt befinde ich mich gerade in dem amphibischen Zustand eines Zwischendurch. Ich will mir demnächst wieder ein umfangreicheres Werk zumuten, und zwar von David Foster Wallace, „Infinite Jest“, das möchte ich als nächstes lesen. Dazwischen lese ich den gerade erschienenen Jahresband der Zeitschrift ‚Merkur’ mit vielen interessanten Aufsätzen zum Thema „Heroismus“. Und vor dem Neumann-Roman habe ich ein anderes umfangreiches Werk gelesen, nämlich Thomas Pynchons „Against the Day“.

Wäre Thomas Pynchon nicht ein Kandidat für den Literaturnobelpreis?

Das wäre das, was ich jetzt sagen wollte: Er ist es eigentlich. Das ist so unglaublich gut, was Pynchon macht – dem Leser gehen immer wieder neue Horizonte auf. Mehr kann man von Literatur nicht verlangen. Pynchon wäre der richtige Kandidat.

Herr Schnell, wir danken Ihnen für das Gespräch.