Erschienen bei WEIRD, 19.10.2019
Entstanden in Zusammenarbeit mit Arne Hartwig
Die Zeitschrift Kapsel ist ein Überraschungserfolg: Eine Zeitschrift aus Deutschland, die chinesische Science-Fiction-Geschichten erzählt, die sie ganz in den Vordergrund rückt. Jeweils eine ganze Ausgabe widmet Kapsel einer dieser Geschichten. Zugänge zu ihr zu legen: dazu dient der übrige Inhalt des Hefts. Die Autor*innen werden im Interview vorgestellt, Leserbriefe ausgewählter Personen und Illustrationen kommentieren die Literatur. Fußnoten ersparen das beim Lesen obligatorische Suchen im Browser. Mit ihrem unwahrscheinlichen Konzept erobert die bei Fruehwerk verlegte Kapsel gerade die SF-Szene sowohl in China als auch in Deutschland. Lukas Dubro möchte mit Kapsel Menschen zeigen wie die Mitte-30-jährige Schriftstellerin Chi Hui, die über einem Huoguo-Laden alleine mit ihrer Katze wohnt und „World-of-Warcraft“-Fan-Fiction schreibt. Und, dass Literaturvermittlung außerhalb der üblichen Blasen gelingt.
Arne Hartwig und David Schmidt trafen Lukas in einem Restaurant in Berlin und sprachen mit ihm lange über seine Zeitschrift, Science Fiction aus China und natürlich: die Zukunft.
Gespräche über Zukunft und Literatur
Dieses Interview erscheint bei WEIRD heute, am 19. Oktober 2019, zeitgleich mit dem Starttermin für eine Veranstaltungsreihe, die die Kapsel-Redaktion gemeinsam mit dem Acud Macht Neu und dem Fruehwerk-Verlag realisiert. Eingeladen sind Schriftsteller*innen aus der zeitgenössischen chinesischen Science Fiction sowie Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus den USA und Berlin. Weitere Informationen finden Sie hier.
WEIRD: Lieber Lukas, Publikationen wie die Kapsel haben es finanziell meist sehr schwer. Die Hefte wollen produziert, die Autor*innen und Illustrator*innen bezahlt werden. Auch der Vertrieb erzeugt Aufwand und Kosten. Die Herausgeber*innen selbst profitieren kaum oder gar nicht, die meisten Projekte tragen sich gerade so selbst. Aber euch geht es gar nicht so schlecht: Im deutschen Science-Fiction-Betrieb kennt euch heute schon jede*r. Jetzt hat die Stadt Berlin eure Veranstaltungsreihe mit 56.000 Euro gefördert. Was stellt ihr damit an?
Lukas Dubro: Von der Förderung laden wir unsere Lieblingsautor*innen aus China sowie Publizist*innen, Künstler*innen und Sinolog*innen aus Deutschland ein, stellen ihre Arbeiten vor und lassen sie auf unserer Veranstaltungsreihe miteinander diskutieren. Wir machen das zusammen mit der Initiative Acud Macht Neu und dem Verlag Fruehwerk.
Mit 56.000 Euro kann man eine ganze Menge Veranstaltungen machen…
Genau. Es gibt einmal die fünf Diskussionen. An jedem Abend wird eine SF-Kurzgeschichte besprochen. Das Diskussionsthema wird dabei durch die Geschichte vorgegeben. Die Auftaktveranstaltung findet am 19. Oktober statt: Die Autorin aus der ersten Kapsel, Chi Hui, wird mit der Journalistin Liang Shuang sowie dem Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Song Mingwei diskutieren. Ausgehend von Chi Huis Story „Der Regenwald“ werden verschiedenste Zukunftsentwürfe aus China vorgestellt. Moderatorin ist die Kulturwissenschaftlerin Vera Tollmann. Neben den Diskussionen gibt es Filme, Werkstätten, Konzerte, eine Ausstellung und eine Lesung. Der letzte Abend ist dann im März 2020. Mit dem Geld bezahlen wir auch einen Podcast, eine neue Website konnten wir damit ebenfalls finanzieren. Das ist schon echt toll!
Bislang stellt ihr in euren Heften je eine SF-Kurzgeschichte aus China vor, flankiert von einer zweiten, die sozusagen darauf reagiert. Bringt ihr denn jetzt für jede dieser Veranstaltungen ein eigenes Heft heraus?
Der Fokus liegt jetzt erst einmal auf der Reihe. Die Geschichten werden immer zwei Wochen vor jeder Diskussion veröffentlicht (Link führt auf die Geschichte „Der Regenwald“, Anm. d. Red.), damit wir direkt in die Diskussion starten können.
Euer Line-Up ist ziemlich beeindruckend.
Auf die Besetzung der Panels sind wir echt stolz. Ken Liu kommt aus den USA. Er hat „Die drei Sonnen“ von Liu Cixin ins Englische übersetzt, er hat Science Fiction aus China in den westlichen Raum befördert, der Umfang seiner Übersetzungen ist beeindruckend. Ken Liu schreibt auch selbst supergute Kurzgeschichten. Zusammen mit Xia Jia kommt er zur letzten Diskussion im März. Von Chen Qiufan, Regina Kanyu Wang, Jiang Bo und Chi Hui, die zu den anderen Abenden kommen, sind wir ebenfalls große Fans! Auch eine Redakteurin von der Kehuan Shijie (Übersetzt: “Welt der Science Fiction”, Anm. d. Red.) kommt nach Berlin, das ist die größte SF-Zeitschrift Chinas mit einer Auflage von über 300.000 Exemplaren.
Bemerkenswert ist daran auch, dass ihr als Indie-Magazin nach nur zwei Ausgaben schon an so eine Förderung kommt.
Es ist schon großartig, dass das alles so geklappt hat. Wir haben eine unglaublich tolle Resonanz auf unser Projekt und arbeiten mit so vielen guten Leuten zusammen. Ich freue mich so sehr darüber, auch weil ich damals nicht wusste, ob das überhaupt irgendjemanden interessiert. Als wir 2015 anfingen, über unser Heft nachzudenken, gab es noch keine einzige Übersetzung der vielen in der jüngeren Zeit in China entstandenen SF-Geschichten auf Deutsch. Im Dezember 2016 brachte Heyne den ersten Teil von Liu Cixins „Drei Sonnen“-Trilogie heraus, um die dank Barack Obama und Mark Zuckerberg, die sich beide als Fans geoutet hatten, schon ein großer Hype bestand. Danach gab es auf jeden Fall großes Interesse für das Thema. Wir waren also genau zur richtigen Zeit fertig.
Ihr seid fast zeitgleich mit dem Ankommen chinesischer Science Fiction in Deutschland gestartet. Man könnte fast meinen, ihr hättet das gespürt, dass da etwas im Kommen ist.
Die Geschichte von Kapsel ist schon sehr besonders. Beinahe hätte ich das gelassen. Ich wollte damals einfach fertig werden – Kapsel ist ja letztlich aus meiner Masterarbeit in der Angewandten Literaturwissenschaft entstanden. Meine Betreuerin mochte die Idee aber so sehr, dass sie sagte: Machen Sie das doch! Ich wollte unbedingt nochmal eine Zeitschrift machen und war frustriert darüber, wie wenig Literatur aus China in deutscher Sprache erscheint. SF aus China gab es wie gesagt gar nicht. Als ich die Idee hatte Science Fiction aus China als Thema zu nehmen, hatte ich aber auch selbst noch gar keinen Text gelesen. Das war so 2014. Ich hatte damals generell gerade erst angefangen, SF zu lesen und dachte, es wäre doch cool mal in China zu schauen, was die Leute da denken und schreiben. Neben dem Master hatte ich dann noch einen Sprachkurs gemacht – jede Woche acht Stunden – und wollte damit ganz konkret was machen. Es war viel Absicht dahinter, aber auch genauso viel Zufall. Auch die Veröffentlichung zeitgleich mit Heyne – das ist einfach passiert. Wir hatten viel Glück, es hätte alles ganz anders kommen können.
Du hattest dich bis dahin mit der Science Fiction aus China gar nicht beschäftigt?
Ich fand einfach die Idee gut und wichtig. Als ich dann die erste Geschichte gelesen hab, das war “Der Regenwald” von Chi Hui, dachte ich einfach: Wow! Die hatte so einen Sound.
Wieso hast du dich für Science Fiction entschieden?
Science Fiction ist eine unglaublich politische Literaturgattung, und das ist auch der Grund, warum ich überhaupt angefangen habe, mich mit SF zu befassen. Die Art und Weise, wie Kapsel gemacht ist, und auch das Anliegen, das wir damit verfolgen, ist klar definiert: Für mich persönlich stand die Suche nach einer Antwort auf die Frage im Zentrum, ob es heutzutage überhaupt noch Zukunftsentwürfe gibt, die nicht das Ende der Welt vorhersagen. Gibt es positive Zukunftsvisionen in China, und funktionieren die auch hier in Deutschland?
Und zu welcher Antwort bist du da inzwischen gelangt?
Für die erste Ausgabe haben wir nach Utopien gesucht. Chong und ich sendeten damals bei Douban, dem größten Online-Forum Chinas, einen Hilferuf ab, um Leute zu finden, die sich mit Utopien auskennen. Es meldete sich eine Userin namens Zhongluo, die gerade zu dem Thema eine Arbeit geschrieben hatte und Mitglied im größten SF-Club Shanghais ist. Sie empfahl uns Chi Huis “Das Insektennest” (s. Kapsel Ausgabe 1). Das ist zwar keine klassische Utopie-Geschichte, hat aber schon tolle Momente. Es gibt darin eine hochtechnologisierte Frauengesellschaft. Die Männer werden in Blumentöpfen großgezogen. Allerdings hat Chi Hui ein Problem mit der Angepasstheit in dieser Gesellschaft. Im Erwachsenenalter mutieren alle Bewohnerinnen zu Riesenkäfern… Aber wir haben darin schon auch positive Zukunftsvisionen entdeckt – auch wenn es nicht viele sind. Und in denen wird auch nicht der Robo-Kommunismus ausgerufen. In der zweiten Ausgabe hatten wir Xia Jia mit “In den Wolken“. In einer anderer Story von Xia Jia, “Tongtongs Sommer”, die wir für Tor Fischer übersetzt haben, geht es darum, wie Robotertechnologie eingesetzt werden kann, um alten Menschen zu helfen und sie an der Gesellschaft wieder teilhaben zu lassen. Eine sehr süße Geschichte, die Xia Jia ihrem Opa gewidmet hat (die Schriftstellerin Xia Jia ist auf der Titelfotografie abgebildet, Anm. d. Redaktion).
Du sagtest einmal zu mir, dass es Zufall sei, dass die Kapsel geworden ist wie sie ist. Aber hat man das Heft in der Hand, hat man nicht das Gefühl, dass ihr vieles dem Zufall überlasst.
Genau! Das Timing war Zufall – da hatten wir echt ein Riesenglück! Und natürlich lebt das Projekt auch von den vielen Bekanntschaften, die ich während des Masters gemacht habe. Das sind wie gesagt alles echt tolle Leute. Frederike Schneider-Vielsäcker forscht schon seit mehreren Jahren zum Thema. Felix Meyer zu Venne kennt sich mit chinesischer Literatur und Theater ebenfalls bestens aus. Er unterrichtet Chinesisch und reist jedes Jahr in das Land. Felix vertritt uns vor Ort und kennt die wichtigen Leute aus dem SF-Kosmos. Mit Marius Wenker, der für die Gestaltung zuständig ist, hab ich vorher mit Cartouche schon eine andere Zeitschrift gemacht. Er hat das Gestaltungskonzept erarbeitet und die ganzen tollen Ilustrator*innen in das Heft gebracht, die auch zum Erfolg der Zeitschrift beigetragen haben. Chong Shen ist Literaturwissenschaftler, wie Felix fließend in beiden Sprachen, und ist für die Übersetzungen unentbehrlich. Und über den Verlag Fruehwerk haben wir Zugriff auf ein großes Vertriebsnetz.
Was bei Kapsel auch besonders ist: Ich hatte viel Zeit, mir über die Gestalt Gedanken zu machen. Zwei Jahre habe ich in der Bibliothek an dem Konzept gearbeitet, das ich für die Masterarbeit schreiben musste. Das ist schon ein großer Luxus, den mir nur das Studium geboten hat! Die Idee ist, möglichst viele Zugänge zu den Geschichten in den Ausgaben zu legen. Die Frage war: Wie schaffst du es über den Inhalt, die Gestaltung, das gesamte Auftreten, dass Leute, die sich nicht für China, nicht für Science Fiction, nicht mal für Literatur interessieren, vielleicht trotzdem das Kapsel-Magazin in die Hand nehmen, es aufschlagen und sagen: „Ok, das nehm ich jetzt mit nach Hause!“, und dann lesen die das vielleicht sogar. Die Kapsel ist also auch eine Initiative zur Literaturvermittlung, und bisher geht der Plan auf.
Du sagtest, dass Kapsel vor allem nach Utopien und positiven Perspektiven sucht. Dabei hat Xia Jias Text “In den Wolken” etwas zutiefst Melancholisches, obwohl er bisweilen verträumt, fast sanftmütig ist. “In den Wolken” spielt in einer Welt, die infolge des Klimawandels in Trümmern liegt. Der Klimawandel kommt als Fanal auch in Liu Cixins “Drei Sonnen”-Trilogie zum Tragen. Ist das ein Motiv, mit dem sich chinesische Science-Fiction-Literatur besonders häufig beschäftigt?
Es gibt auf jeden Fall Themen, die immer wieder auftauchen. Umwelt ist natürlich so ein Thema. Was mich dabei beeindruckt, ist die große Vielfalt: Es gibt Cyberpunk-Geschichten, es gibt Utopie-Geschichten, es gibt Hard Science Fiction, es gibt sogar eigene Stile: Porridge Science Fiction nennt Xia Jia das, was sie macht. Also weicher als Soft Science Fiction, sie vermengt Fantasy und Science Fiction.
Und diese Vielfalt abzubilden ist euer Ziel?
Genau, richtig, das war die Idee! Mit dem Heft eine Anthologie zusammenzustellen mit den wichtigsten Autor*innen und ihren Stories. Der Kosmos in China ist so produktiv! Chi Hui sucht bei Kehuan Shijie die Geschichten aus, die in dem Heft gedruckt werden.
Zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe lagen ganze anderthalb Jahre. Lässt sich etwas darüber sagen, in welchem Turnus Kapsel künftig erscheint?
Wir haben alle Jobs, die Vorrang haben. Kapsel machen wir, wenn wir können. Einmal im Jahr ist unter diesen Bedingungen schon viel. Aber das ist okay, weil über die Zeit das Interesse an Kapsel gestiegen ist. Ich glaube, hätten wir jetzt schon die vierte Ausgabe draußen, hätte uns anderswo die Energie gefehlt. Aber jetzt ist die Aufmerksamkeit da. Die erste Ausgabe ist offiziell ausverkauft. Von der zweiten haben wir innerhalb von anderthalb Monaten über 200 Hefte verkauft. Die dritte wird voraussichtlich im Januar fertig.
Nicht nur durch eure Spezialisierung auf chinesische Science Fiction fallt ihr im zeitgenössischen Angebot der deutschen Zeitschriftenlandschaft auf. In beiden erschienenen Ausgaben von Kapsel steht jeweils die Literatur einer weiblichen Schriftstellerin im Zentrum, ohne dass ihr damit prahlt. Während eigentlich niemand mehr an die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit von Zeitschriften glaubt, wagt ihr mit einer zurückgenommenen Aufmachung den Bruch mit der Konvention. In der Folge erhaltet ihr Fördergelder der Stadt Berlin und Dietmar Dath schreibt euch einen Text.
Als ich Max Dax von Kapsel erzählt hab, meinte er zu mir: Je radikaler, desto besser. Das ist das, was wir machen: Es geht um Science Fiction aus China, Punkt. Und das versteht jeder sofort. Was ich ja am Internet übrigens am meisten mag, ist der Gossip. Eine unserer Ideen war es, ein Gespräch über die Texte direkt im Heft stattfinden zu lassen. Und an diesem Gespräch hat dann auch Dietmar Dath teilgenommen.
Kapsel bedient diesen Impuls Dinge nachzuschlagen sehr gut, den man vom Lesen im Internet kennt. Immer findet man in den Heften genau das, was man gerade sucht, sei es Gossip oder eine Hintergrundinfo.
Ja, das ist auch Teil des Konzepts: Kontext zu liefern, möglichst niedrigschwellig zu arbeiten, möglichst den Gegenstand in den Vordergrund zu rücken, nicht nur um Namen zu kreisen. Das Problem hatte Cartouche (vorheriges Zeitschriftenprojekt von Lukas Dubro, Anm. d. Red.). Da schrieb halt irgendein Typ über irgendeine Band und es ging eigentlich die ganze Zeit nur um Namen. Überhaupt geht es in vielen Magazinen heutzutage um Namen, und gar nicht mehr um den Inhalt. Wir wollen Chi Hui zeigen, die über diesem Huoguo-Laden alleine mit ihrer Katze wohnt und Mitte 30 ist, und die „World-of-Warcraft“-Fan-Fiction schreibt. Was treibt sie an? Ich hab zum ersten Mal das Gefühl, auch Leute zu erreichen, die sich in diesem Medien-Kultur-Ding nicht so zuhause fühlen. Außerdem ist mir persönlich sehr wichtig zu zeigen, dass nicht nur weiße Männer Literatur schreiben können, sondern dass es auch coole Frauen in China gibt, die tolle Geschichten schreiben. Oder dass es hier in Berlin sehr talentierte Illustrator*innen gibt, die eine neue Ästhetik prägen.
In der Kapsel gibt es keine Fotos, sondern ausschließlich Illustrationen.
Das ist auch eine Maxime. Wir versuchen, auf verschiedenen Ebenen Zugänge zu den gefeatureten Texten zu legen. Die Übersetzung ist ein Tool, das allen ermöglichen soll, diesen chinesischen Text zu lesen. Das Interview ist ein Tool, um den Text einordnen zu können, genauso wie die Fußnoten, in denen Begriffe und Namen erklärt werden. Und Illustrationen und Gestaltung sind die nächste Ebene, die noch mal auf ganz andere Art einladen, die Geschichte aufzunehmen. Ausgangspunkt ist und bleibt immer die Geschichte.
Und auch die Veranstaltungsreihe legt wieder Zugänge zur Literatur…
Genau. Du hast wieder die Geschichte als Ausgangsmaterial für Live-Diskussionen auf Podien. Die Geschichte kannst du dir vorher durchlesen, gehst hin, kannst den spannenden Leuten zuhören. Du siehst alles, kannst alles fühlen – so muss Kulturvermittlung aussehen. Wenn Musik, Kunst oder auch Politik ausschließlich in abgetrennten Räumen stattfindet, worum geht es dann da? Sollte es nicht eigentlich darum gehen, coole Ideen möglichst weit zu verbreiten, oder überhaupt mal wieder über coole Sachen zu reden? Und zwar ohne groß darauf einzugehen, sondern mit einer Selbstverständlichkeit. Eben nicht zu sagen: Hey, wir haben hier Frauen, die schreiben, oder sowas. Sondern einfach zu machen. Und dann gibt man es den Leuten so an die Hand und redet da auch gar nicht weiter drüber und die akzeptieren das einfach so, als sei das das Normalste der Welt, den Text einer Chinesin aus Chengdu in deutscher Sprache zu lesen. Wenn das klappt, dann ist die Kapsel geglückt.
Wie schafft man es, dass sowas auch länger wirkt, breiter wirkt und größer wirkt. Das war so die Herangehensweise dabei. Wir wollen den Leuten gar nicht die Welt erklären. Es geht nicht darum, etwas über China zu erzählen, sondern wir holen einfach Leute aus China her und geben denen eine Plattform und die diskutieren, und wir sind einfach nur da und gucken, dass sie die größtmögliche Aufmerksamkeit bekommen.
Ihr bewerbt euer Heft als Magazin für „Fantastische Geschichten“. Unter diesem Label kann ich mir viele Genres vorstellen: Hard-SF oder Weird Fiction, Horror und Fantasy, Cli-Fi und anderes mehr. Bisher handelte eure Zeitschrift aber exklusiv von Science Fiction. Kommen denn die anderen Genres in Frage? Kriegen wir irgendwann eine Horror-Geschichte in einem Kapsel-Heft?
In einem SF-Setting, warum nicht?
Dass es SF sein muss, ist also fix?
Das ist fix. Das “Fantastische Geschichten” ist vor allem eine Referenz an alte SF-Magazine. Die hießen Amazing Stories – und Amazing Science Fiction. Der Name ist auch eine kleine Referenz an die Nerd-Kultur. Ich hab zu der Zeit viel Dragon Ball gelesen. Da gibt es die Hoi-Poi-Kapseln: Du drückst drauf und es kommen verschiedene Sachen heraus. Die Idee, nur Illustrationen zu nehmen, kam auch aus den alten SF-Heften.
Eine Hommage.
Genau. In den Editorials kopieren wir den Sound der ersten SF-Zeitschriften. Es ist im Grunde Hugo Gernsback, der zu euch in den Editorials spricht. Auf jeden Fall haben diese alten Zeitschriften auch immer so Begriffe wie „amazing“ in ihren Titeln benutzt, und ich hab überlegt: Wie kannst du dieses amazing gut übersetzen? Und so kam ich auf das „fantastische“. Da steckt ja diese Ambivalenz auch drin, dass man Fantasy macht, aber wirklich auch „Fantastisches“ im Sinne von “Großartiges”.
Wie hat dir persönlich Liu Cixins “Die Drei Sonnen”-Trilogie gefallen, die der chinesischen Science Fiction hierzulande 2017 zum Durchbruch verhalf?
Ich weiß nicht. Da sind wir uns in der Redaktion relativ einig, dass wir diesen Hype um den nicht wirklich verstehen können. Als ich „Die drei Sonnen“ gelesen habe, habe ich mich eher so ein bisschen an Frank Schätzing erinnert gefühlt. Aber es gibt natürlich auch hier tolle Bilder: das Computerspiel in der Geschichte ist echt cool gemacht. Meine Empfehlung wäre da aber eher Ken Liu, oder Ted Chiang, der „Story of Your Life“ geschrieben hat. Chen Qiufan ist auch super. Der schreibt Cyberpunk-Geschichten. Meine Lieblingsautorin ist und bleibt aber Chi Hui.
Letzte Frage: Wie sieht diese Welt in hundert Jahren aus? Leben wir alle im All oder in Ruinen?
Ich hoffe natürlich, dass wir da alle noch leben.
Du auch?
Natürlich. Und ich hoffe, dass wir dann in einer Zeit leben, zu der man nicht mehr den ganzen Tag arbeiten muss. Was würden wir dann anfangen mit all der Zeit?
Vielleicht die vierte Ausgabe der Kapsel herausbringen?
Genau! Ja, wer weiß. Aber das wäre eigentlich mein Wunsch, dass es dann so ist wie in dieser einen Geschichte von Ken Liu: dass wir es geschafft haben, uns irgendwie so ein bisschen zu transzendieren, und die nächste Stufe zu erreichen. Und dass wir das machen können, worauf wir Lust haben und mehr Zeit ist für die schönen Sachen. Dass wir uns nicht mehr Gedanken machen müssen, wie wir die Miete bezahlen, sondern mehr darüber nachdenken können, wie wir leben wollen. Das wäre so mein Traum. Das wäre mal was anderes.
Die dritte Ausgabe der Kapsel erscheint voraussichtlich am 18. Januar 2020 im Verlag Fruehwerk. Weitere Informationen unter www.kapsel-magazin.de.