Das „Willow Project“ bedroht eine Polarkreis-Gemeinde im Norden Alaskas
Vergangenen Sommer sind wir an den nördlichsten Zipfel Alaskas gereist und haben das Dorf Nuiqsut besucht, in dessen Nachbarschaft das Willow Project entsteht: ein massives Erdölprojekt mitten im arktischen Ökosystem. Doch obwohl die Förderpläne Umwelt und Lebensweise der Iñupiat bedrohen, ist die Dorfgemeinde gespalten. Die große Debatte um die Zukunft des Öls und die Klimakrise spiegeln sich in ihr wider. Steigende Temperaturen bahnen rapide einen Systemwechsel in der Arktis an.
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Erstveröffentlichung am 20. April 2024 im Wochenendjournal der Märkischen Oderzeitung (MOZ) und der Südwestpresse. Finanziert mithilfe eines Crowdfundings und des Transatlantic Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, D.C.
Bilder und Text: Inga Dreyer und David Schmidt
Sam Kunaknana bindet ein weißes Stück Plastik an einen Ast. Die Markierung soll später helfen, die Stelle wiederzufinden, an der das Motorboot festgeleint unten am Flussufer steht. Dann nimmt er das Gewehr auf den Rücken, schiebt die Zweige einer Weide beiseite und sucht sich einen Weg durchs dichte Gebüsch. Vier Menschen folgen ihm dicht. Der von Wasseradern durchzogene Boden gibt mit einem lauten Schmatzgeräusch unter jedem Schritt nach, das Sirren der Mücken erfüllt die Luft.
Plötzlich lichtet sich das Gestrüpp und eine Ebene breitet sich vor der Gruppe aus: die baumlose Weite der Tundra. Kunaknana ist an diesem Sonntag mit seiner Lebensgefährtin Rene Opie, zwei älteren Verwandten und der 18-Jährigen Qapqan Patkotak mit dem Boot über den breiten Fluss auf einen Jagdausflug raus nach Norden gefahren. Bis zu acht Monate lang herrschen Schnee und Eis im Norden Alaskas, bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad Celsius. Jetzt im August scheint die Sonne, es ist 10 Grad warm und Qapqan Patkotak läuft im T-Shirt über die von Moosen und knorrigen Bodengewächsen bedeckten Hügel.
“Da!”, sagt Kunaknana und deutet mit dem Finger auf ein einsames Rentier, das in einer Landschaftssenke grast: “Ein Karibu.” Langsam nimmt er das Gewehr in die Hand. Er blickt durch das Zielfernrohr und hält seinen Atem an.
Lizenz von Donald Trump: Das „Willow Project“
Sam Kunaknana gehört zur indigenen Volksgruppe der Iñupiat. Nuiqsut, das kleine Dorf am North Slope, in dem er zuhause ist, erlangte vor rund einem Jahr plötzlich Bekanntheit. Die Biden-Regierung genehmigte im März 2023 das Willow Project, nur etwa 50 Kilometer von Nuiqsut entfernt. Der Ölkonzern ConocoPhillips erhielt die Lizenz dafür bereits in der Trump-Ära. Neben drei Bohrfeldern sollen auf einer Fläche von vier Millionen Hektar unter anderem ein Flugfeld, Brücken und Straßen entstehen.
International berichteten Medien über das Projekt und die Kontroverse, die es in den USA ausgelöst hat. „Keine neuen Bohrungen mehr auf öffentlichem Land”, hatte Präsident Biden im letzten Wahlkampf versprochen. Jetzt aber entstehen doch wieder neue Ölbohrplattformen, mitten in der arktischen Tundra. Viele seiner Wähler werfen Biden deswegen Wortbruch vor.
Einer offiziellen Schätzung der Regierung zufolge könnte das Willow Project in den kommenden 30 Jahren bis zu 600 Millionen Barrel Öl produzieren. Das entspricht, wenn alles verbrannt wird, etwa 239 Millionen Tonnen CO2-Emmissionen. Willows Befürworter wollen Alaskas Ölindustrie neu beleben. Seine Gegner fürchten um das Land, das Wasser und die Tierwelt, von denen die Iñupiat leben.
Sam Kunaknana lehnt das Willow Project ab – doch längst nicht alle Bewohner Nuiqsuts denken wie er. Das kleine Dorf ist gespalten. Die große Debatte um die Zukunft des Öls spiegelt sich dort wider.
Seelöwen, Eisbären, Robben und Wale
Als eine von acht Iñupiat-Gemeinden liegt Nuiqsut unweit der Beaufortsee wie eine Insel in einer kaum besiedelten Landschaft, die seit 1923 als “National Petroleum Reserve Alaska” bezeichnet wird. Nuiqsut ist wie viele Gemeinden Alaskas nicht an ein Straßennetz angebunden und nur per Boot oder Kleinflugzeug zu erreichen – im Winter auch über temporäre Eisstraßen. Dann stapfen hier Eisbären durch den Schnee. Im Sommer ist die Tundra für Zugvögel ein wichtiger Rast- und Nistplatz. In den Meeren rundherum sind Seelöwen, Robben und Wale zuhause.
Seit Ende der 1970er Jahre rückt die Ölindustrie immer näher an Nuiqsut heran. Vom Dorf aus sieht man die Umrisse einer Ölbohrplattform, die aus der flachen Landschaft hervorsticht. Pipelines und Tausende Bohrlöcher liegen zwischen dem Dorf und der rund 500 Kilometer entfernten Basis der Ölindustrie Prudhoe Bay, von der aus das Öl durch die Trans-Alaska-Pipeline nach Valdez im Süden des Landes gelangt. Auf Postern und in Kalendern, sogar in Kinderbüchern drückt sich in Alaska der Stolz auf die 1.300 Kilometer lange Ölpipeline aus, die das weite Land mit seiner Tundra, den Gebirgen und Wäldern einmal senkrecht durchschneidet.
“Zu groß”, sagt Kunaknana und setzt das Gewehr wieder ab, während das Karibu den Kopf gesenkt hält und den Boden nach Nahrung absucht. Die Älteren im Dorf haben dem Jäger gesagt, was sie brauchen: “Ein kleines Tier. Das Fleisch schmeckt ihnen besser.” Das sei schon immer seine Rolle im Dorf gewesen: andere zu versorgen, die zu alt sind, um selbst zu jagen, sagt seine Lebensgefährtin Rene Opie. Der 56-Jährige winkt lächelnd ab: “Auch ich werde langsam älter.” Er schwingt das Gewehr wieder auf den Rücken.
“Wenn nichts passiert, verlieren wir unsere Kultur”
Sam Kunaknana ist ein freundlicher, bedächtig sprechender Mann, der entschiedene Worte wählt, wenn es um Klima- und Umweltschutz geht. Er blickt auf ein Leben als Jäger und Sammler, aber auch als wichtige Stimme der Gemeinde zurück.
Als Mitglied des Stammesrates oder in seiner Zeit als Bürgermeister: Immer wieder hat Kunaknana vor den Auswirkungen der Ölindustrie auf die Umwelt gewarnt. Doch inzwischen bekleidet er keine Ämter mehr. Auch Arbeit fänden er und Rene Opie seit zwei Jahren keine mehr. Kunaknana führt das auf seine kritische Haltung gegenüber Willow zurück. “Ich glaube, viele Leute verstehen nicht, was hier wirklich vor sich geht”, sagt er. “Wenn nichts passiert, verlieren wir unsere Kultur.”
Qapqan Patkotak hat auf einem Hügel Cloudberries entdeckt. Die gelben, süßen Früchte, die auf Deutsch Moltebeeren heißen, kleben an ihren Fingern. Die 18-Jährige trägt im Gesicht traditionelle Tätowierungen der Iñupiat. Die Weidenzweige neben ihren Augen stehen für Resilienz. Sie ist zum ersten Mal auf einem Jagdausflug mit dabei. Gerne würde sie so etwas viel öfter machen, mehr über die traditionelle Jagd erfahren – und wieder stärker so leben wie einst ihre Vorfahren, sagt sie.
Das Leben der Iñupiat im North Slope hängt seit Jahrtausenden von der Jagd ab, sagen die Älteren. Sam Kunaknana aber fürchtet, dass die Erdölförderung Lebensgrundlagen der Gemeinde gefährden. Er fordert, die Auswirkungen der Ölindustrie auf die Umwelt besser zu untersuchen. Jedes Frühjahr ziehen Karibus auf dem Weg zu ihren Paarungsgründen im Norden dicht an Nuiqsut vorbei. Doch seit den ersten Ölbohrungen würden es immer weniger, sagt Sam.
„Früher waren es Zehntausende“
“Wenn die Jüngeren heute 500 Karibus sehen, denken sie, das sei schon viel. Aber früher waren es Zehntausende. Es war, als würde sich die ganze Tundra bewegen”.
In Zukunft werden sich auch das Willow Project und die damit verbundenen Bauarbeiten auf die Routen der Herden auswirken, befürchtet Kunaknana. Wenn die Tiere das Areal großräumig umliefen, verlören die Iñupiat eine wichtige Nahrungsquelle – und ein zentrales Kulturgut.
Kunaknana zeigt auf seinem Handy ein Foto von kranken, deformierten Fischen und sagt, solche Exemplare ziehe er immer wieder aus dem Wasser. Seit der Jahrtausendwende häufen sich die Berichte über das Phänomen. Ist es gefährlich, die Fische zu essen? Eine Studie kommt zu dem Schluss, die Fische seien zwar unansehnlich, aber genießbar. Kunaknana überzeugt das nicht: “Vielleicht habe ich meine Familie mit kranken Fischen versorgt”, sagt er. Aus Angst sei er ein Jahr lang nicht fischen gegangen. “Aber das hat mir irgendwas genommen. Ich bin mit dem Jagen und Fischen aufgewachsen. Ich war deprimiert und fühlte mich verloren. Als hätte ich meine Identität verloren.”
Beeren und Bären
“Akłaq!” Rene Opie ruft auf Iñupiaq, der Sprache der Iñupiat. Ein großer Braunbär läuft genau auf die Gruppe zu. In der flachen Tundra sieht man ihn schon aus der Ferne. “Mach das Gewehr bereit”, ruft Opie, dann noch einmal, mit Nachdruck: “Mach das Gewehr bereit!” Schnell kommt der Braunbär näher. Doch Sam Kunaknana bleibt ruhig. Zwanzig Meter entfernt bremst das große Tier ab und bleibt stehen. Erst jetzt legt Kunaknana zur Sicherheit das Gewehr auf ihn an. Doch so schnell er gekommen ist, so schnell ist der Bär wieder weg. “Wow”, sagt Qapqan Patkotak. “Ich war noch nie so nah an einem Akłaq.”
“Bären machen uns Eskimos keine Angst, aber wenn wir eine Hummel sehen, rennen wir schreiend weg”, sagt Sam Kunaknana nach der Begegnung und lacht. Zusammen mit Moschusochsen und Elchen sind die Grizzlies die größten Landtiere Alaskas. “Im Grunde sind wir und die Tiere gleich”, sagt Qapqan Patkotak. “Wir müssen sie respektieren, so, wie es unsere Vorfahren taten.” Auch deshalb wünscht sich Patkotak, dass das Öl in der Erde bleibt. “Die Konzerne interessiert nur ihr Profit. Ich wünschte, sie würden einfach verschwinden. Aber nur wenige Menschen denken wie ich.”
Tatsächlich regt sich durchaus Widerstand gegen die Erdölförderung in Alaska. Anwältin Bridget Psarianos von der auf Umweltthemen spezialisierten Anwaltskanzlei Trustees for Alaska vertritt eine Koalition aus Indigenen- und Umweltverbänden, die versucht, das Willow Project zu verhindern.
„Die Freigabe des Willow Project widerspricht den Klimazielen der Biden-Regierung“
“Verkehr, Lärm und Umweltverschmutzung werden massive Auswirkungen auf die Tierwelt, die Luft- und Wasserqualität, den Boden und die dort lebenden Menschen haben”, sagt Psarianos. “Die Freigabe des Projekts durch Behörden wie das Bureau of Land Management (BLM) erfolgte in Verletzung von Gesetzen zum Umweltschutz und Subsistenzpraktiken.” Letztere umfassten in der Arktis vor allem das Jagen und Fischen und das Sammeln von Pflanzen und Beeren. “Die erheblichen Treibhausgasemissionen des Willow Project hätten außerdem gravierende Auswirkungen auf die Arktis und das globale Klima”, sagt die Anwältin. Das BLM wollte den noch laufenden Prozess auf Anfrage der Südwestpresse nicht kommentieren. Auch ConocoPhillips bezog keine Stellung zu einer Konfrontation mit den Vorwürfen der Klage.
Willow gieße neues Wasser auf die Mühlen einer bereits angeschlagenen Industrie, sagt Athan Manuel vom Umweltverband Sierra Club. Die Ölfelder am North Slope seien wegen abnehmender Reserven bereits buchstäblich am Versiegen gewesen. Um so verärgerter ist Manuel darüber, dass Willow genehmigt wurde. “Das ist inakzeptabel und widerspricht den Klimazielen der Biden-Regierung, die erreicht werden müssen, um den Klimawandel zu bremsen.” Alaskas Staatshaushalt werde von den Ölgeschäften getragen. “Alaska ist als Petro-Staat komplett abhängig von einer Industrie, die den Planeten zerstört.”
Und daran scheint sich so bald nichts zu ändern. Unter Donald Trump begann für die USA ein riesiger Öl-Boom, der auch unter Joe Biden noch anhält. Seit Jahren vermeldet die Wirtschaft neue Förderrekorde. Gleichzeitig werden immer wieder Hitzerekorde gemeldet. 2023 war das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Erderwärmung ist zum überwiegenden Teil auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe zurückzuführen. Historisch haben die USA davon am meisten verbrannt.
“In der Arktis gibt es keine Bäume“
Alaskas Bevölkerung stehe trotz der Klima- und Umweltschutzbedenken größtenteils hinter Willow, sagt Manuel. Das Projekt könnte die Ölproduktion in Alaska um mehr als ein Drittel erhöhen. Politiker wie die Senatorin Lisa Murkowski werben seit langem in Washington für das Projekt und verweisen auf Arbeitsplätze, Geld für die Staatskasse und Vorteile für Indigene wie beispielsweise eine verbesserte Infrastruktur.
In Nuiqsut auf der Straße darauf angesprochen, reagieren viele Iñupiat freundlich, aber lehnen es ab, sich zum Willow Project zu äußern. Nicht so Myles, der eigentlich anders heißt. An diesem Sommerabend tigert er unruhig vor seinem Haus auf und ab, dabei murmelt er leise Flüche. Er sucht etwas unter den Stelzen, die das kleine Gebäude über dem schwammigen Boden tragen. Auf einem Gestell neben seinem Haus hängen Karibu-Felle, die er als Decken nutzt, wie er erzählt. Die letzten Nächte hat Myles in einer Zelle im örtlichen Polizeirevier zugebracht. Weil er getrunken habe, sagt Myles. Das ist in Nuiqsut verboten.
“Die große, große Mehrheit unserer indigenen Bevölkerung ist nach wie vor verarmt“
“Ich hasse diese Bäume-Umarmer”, sagt er über die Umweltschützer im Ort. “In der Arktis gibt es keine Bäume. Sollen sie doch nach Süden gehen.” Myles ist Jäger, aber Angst, dass die Karibus die Gegend in Zukunft meiden könnten, habe er keine. Im Gegenteil erhoffe er sich Vorteile bei der Jagd. Über die neuen Straßen werde er mit dem Auto näher an die Herden heranfahren können. Noch aus einem weiteren, wahrscheinlich wichtigeren Grund ist Myles offen für Geschäfte mit der Ölindustrie: Wie viele im Ort profitiert auch er finanziell.
„Nuiqsut ist eine der wenigen indigenen Gemeinden weltweit, bei denen der aus der Ausbeutung ihrer Heimat erzielte Gewinn zum Teil in die Gemeinschaft zurückfließt“, sagt Evon Peter, indigener Wissenschaftler und Schriftsteller. Nuiqsut verdient gut am Öl, während es in anderen Orten immer noch kein fließendes Wasser gibt. “Die große, große Mehrheit unserer indigenen Bevölkerung ist nach wie vor verarmt und kämpft damit, die monatlichen Rechnungen zu bezahlen“, sagt Peter. Nuiqsut hat den Vorteil in einer an Bodenschätzen reichen Region zu liegen – zudem konnte die Kuukpik mit den Erdölkonzernen sehr gute Verträge schließen.
Die Kuukpik ist eine „Indigenous Corporation”, eine Firma, an der die Gründer Nuiqsuts und viele ihrer Nachfahren Anteile halten. Im Namen ihrer Aktionäre schließt die Kuukpik mit der Ölindustrie Verträge ab. ConocoPhillips bezahlt für die Nutzung des Landes und bietet der indigenen Gemeinde Gelegenheitsarbeiten an – zum Beispiel im Eisstraßenbau.
Grundlage dafür ist der Alaska Native Claims Settlement Act (ANCSA), den die USA 1971 erließen: Die Gemeinden, die unterschrieben, teilen sich Wertpapiere über rund ein Zehntel der Fläche Alaskas – und gaben dafür im Tausch ihren rechtlichen Anspruch auf die von ihnen bewohnten Gebiete ab. “Ein schlechter Deal”, sagt Sam Kunaknana. “Aber wir hätten sonst vielleicht alles verloren.”
Das Geld hat das Leben in Nuiqsut verändert
Heute befähigt ANCSA die Iñupiat in Nuiqsut zur Beteiligung an den Gewinnen der Ölindustrie. Bis zu 95 Prozent der Einkünfte der Gemeinde gingen auf Geschäfte mit der Ölindustrie zurück, schreibt der Substack-Blog Northern Journal aus Anchorage. Über die Dividende werden die Aktionäre der Kuukpik an den Gewinnen beteiligt. Durch das Geld hat sich das Leben in Nuiqsut verändert: Inzwischen gibt es eine Schule, die Feuerwehr, ein Hotel, ein Kraftwerk, beheizte Häuser mit dicken Wänden, die ihre Bewohner vor der strengen Kälte abschirmen: All das zu betreiben ist teuer, besonders aufgrund von Nuiqsuts abgeschiedener Lage.
Sam Kunaknana nennt die Dividenden “Fluch und Segen zugleich”. Denn was wird sein, wenn das Öl eines Tages zuneige geht, und kein Geld mehr kommt? “Dann leben wir wieder wie damals”, sagt er und fügt hinzu, dass das nicht so einfach ist, wie es klingt. “Viele unserer Kinder lernen nichts mehr über das Land und die Jagd”, sagt Rene Opie.
“Wir sind nicht prinzipiell gegen Veränderung, sondern für vernünftige Entwicklung”, sagt die lebhafte Frau. Sie und ihr Partner hätten vieles probiert, um sich Gehör zu verschaffen. Laut ConocoPhillips habe es zu Willow mehr als 150 Treffen mit Anwohnern und Interessenvertretern gegeben. Die Rückmeldungen seien in die Konzeption des Projekts eingeflossen. Rene Opie hat einen anderen Eindruck. “Sie hören nicht auf die Bedenken der Community. Das ist frustrierend.“
Immerhin habe die Gemeinde erreicht, dass ConocoPhillips statt fünf Plattformen nun nur noch drei bauen darf, sagt Rosemary Ahtuangaruak, die bis Ende letzten Jahres Bürgermeisterin von Nuiqsut war. Aus dem Stadtrat erklärt sich niemand zum Gespräch bereit. Ahtuangaruak spricht als Privatperson mit der Presse. Anfang letzten Jahres hat sich der Stadtrat in einem offenen Brief noch gegen das Projekt ausgesprochen. Inzwischen aber hat das Gremium seine Meinung geändert.
Die Arktis erhitzt sich fast viermal so schnell wie der Planet insgesamt
Am Abend kehren Sam Kunaknana und die anderen mit Zip-Beuteln voller Beeren nach Nuiqsut zurück. Rene Opie legt sie in die Tiefkühltruhe – zu Lachs und Karibu-Fleisch. Sie will damit “Eskimo-Eis” machen, eine Delikatesse aus aufgeschlagenem Karibu-Fett, getrocknetem Fleisch und Beeren, die man zu besonderen Anlässen isst.
Es ist seltsam warm an diesem Samstag in der Arktis. In der Dämmerung ist der Himmel blutrot. Rene Opie geht auf die Terrasse und raucht eine Zigarette. Ein paar Jugendliche düsen mit Quads und Motorrädern über die Straßen.
Am Dorfrand lehnen auf einer Baustelle zwei Mopeds an übereinandergestapelten Holzpaletten. Drei Kinder balancieren über ein schmales Holzbrett, das zwei Palettenstapel verbindet. “Hier ist unser Versteck”, sagt ein Mädchen.
Vor den kleinen, auf Stelzen stehenden Häusern liegen Autoteile, Felle, Geweihe, haufenweise Metall, Käfige und Harpunen. Wo früher die Schlittenhunde angeleint waren, ruhen Schneemobile, Motorboote und Autos.
Irgendwo hinter Kunaknanas Haus liegt auch der Eingang zu einem Eiskeller verborgen, den die Familie nicht mehr nutzt. So ergeht es vielen der traditionellen Kühlschränke im Permafrostboden, die durch die steigenden Temperaturen nicht mehr zuverlässig funktionieren.
„Der Klimawandel verändert alles“
Die Sommer werden länger, die Winter kürzer. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Jagd und die Tierwelt. „Der Klimawandel verändert hier alles”, sagt Kunaknana. Die Arktis erhitzt sich fast viermal so schnell wie der Planet insgesamt. Der Permafrostboden schmilzt. Klimawissenschaftler Rick Thoman beobachtet, wie der Klimawandel die amerikanische Arktis verändert. “Die Häufigkeit von Tagen mit Temperaturen um die minus 50 Grad Celsius sinkt”, sagt er in seinem Büro in der University of Alaska Fairbanks. Bis zu 600 Meter tief ist der Boden am North Slope durchfroren. Organisches Material, das seit der Eiszeit im Permafrostboden versiegelt war, taut während des Sommers auf und wird von Mikroorganismen zersetzt. Dabei entstehen Kohlenstoffdioxid und das fürs Klima besonders gefährliche Gas Methan.
Seit den 80ern beschleunige sich die Erwärmung im Norden Alaskas dramatisch: Inzwischen seien die arktischen Winter schon durchschnittlich sieben Grad wärmer als noch in den 70er-Jahren. “Als unmittelbare Folge wird aus einem eisdominierten System ein wasserdominiertes System”, sagt Thoman. Weil das Eis die Wärme des Wassers versiegelt, mache selbst ein sehr dünner Eisschild für das Klima der Arktis einen großen Unterschied aus. “Aber ohne das Eis gelangt mehr Wärme aus dem Wasser in die Atmosphäre. Dadurch steigen die Wintertemperaturen erheblich an.”
Außerdem frisst sich ohne den eisigen Schutzschild das Meer immer tiefer ins Land. Küstenorten bricht wortwörtlich der Boden unter den Füßen weg, der Permafrost erodiert. In den letzten Jahren hätten sich Fälle gemehrt, bei denen Menschen auf abgebrochenen Eisschollen aufs Meer hinaustrieben, sagt Thoman – für die indigenen Jäger eine große Gefahr.
Vier Winter
Im Herbst, zwei Wochen nach dem Jagdausflug in die Tundra, zieht Joe Biden von der Trump-Regierung erteilte Bohrlizenzen in geschützten Teilen Nordalaskas zurück. Die Biden-Regierung verbietet zudem die Ölförderung auf rund 40 Prozent der Fläche der National Petroleum Reserve. Die Lizenzen für das Willow Project aber bleiben unberührt. Mit noch vier Wintern rechnet ConocoPhillips, bis Willow zum ersten Mal Öl fördern wird. Ist das Projekt noch zu stoppen?
Im November weist ein Bundesgerichtshof die Klage gegen das Öl-Projekt ab. Der Versuch von Anwältin Psarianos, die Bauarbeiten hinauszuzögern, bis das neunte Bezirksgericht (Ninth Circuit Court) bestätigt, dass die Klage bislang erfolglos war, scheitert. Im Winter starten die Bauarbeiten, Eisstraßen entstehen, Schotter wird verlegt und Pipelineträger werden installiert. Nur jetzt ist der Grund fest genug, um schwere Maschinen zu tragen.
Währenddessen warten die Gegner des Willow Project auf den Urteilsspruch eines Berufungsgerichts – bis heute. Bald sollte es eine Antwort geben, sagt Psarianos.