Klimaklage
Klimaklage
"Nicht ich bin die Geisterfahrerin": Roda Verheyen im Empfangssaal ihrer Hamburger Anwaltskanzlei. © Inga Dreyer.

“Es geht darum, wer für die Folgen des Klimawandels bezahlt”

Roda Verheyen vertritt private Kläger gegen Konzerne wie RWE und VW. Die sollen für Schäden zahlen, die ihre Emissionen anrichten.

Große Unternehmen wie RWE tragen einen wesentlichen Teil zur Klimakrise bei. Bald könnte sich entscheiden, ob sie künftig für die Folgen belangt werden können, sagt die Anwältin Roda Verheyen. 

Erschienen bei ZEIT ONLINE, 15.08.2022

Bilder und Interview: Inga Dreyer und David Schmidt

Der peruanische Bauer und Bergführer Saúl Luciano Lliuya klagt als Privatperson gegen den deutschen Energieriesen RWE. Das klingt nach einem Kampf zwischen David und Goliath. Worum geht es genau?

Roda Verheyen: In Peru schmelzen infolge der Klimakrise die Gletscher. Das ist in zweierlei Hinsicht gefährlich. Wenn sie schmelzen, wird das Trinkwasser knapp. Außerdem drohen die Gletscherseen überzulaufen und Flutwellen auszulösen. In unserer Klage geht es darum, das Risiko abzuwenden, dass das Haus meines Mandanten von einer Gletscherflut getroffen wird. Die Frage ist: Kann man aus dem deutschen Recht herleiten, dass ein sehr großer Mitverursacher des Klimawandels mitverantwortlich ist, das Flutrisiko abzuwenden und die Trinkwasserversorgung zu sichern? Es geht dabei um einen partiellen Anspruch: Nur in dem Umfang, in dem RWE am Klimawandel beteiligt war, soll der Konzern die Kosten dafür mittragen.

Aber wie könnte der Konzern ganz konkret diese Verantwortung übernehmen?

Verheyen: Zwischen dem Gletscher und dem Haus meines Mandanten bildet das Gletscherwasser eine Lagune, die Laguna Palcacocha. Wir wollen, dass das Wasser aus dieser Lagune abgeleitet und anderswo sicher gespeichert wird, um das Risiko einer Überflutung einzugrenzen. Läge der See in der Schweiz oder in Österreich, wäre das längst passiert. Aber Peru hat dafür kein Geld. Und darum fordern wir, dass RWE die Kosten dafür in Teilen trägt, und zwar in dem Umfang, in dem der Konzern am Klimawandel beteiligt war. In unserer Klage geht es für RWE um sehr wenig Geld. Aber wenn wir erfolgreich sind, wäre der Grundsatz im deutschen Recht etabliert. Ich glaube, deshalb bekämpft RWE das Verfahren mit allen Mitteln des Zivilprozessrechts.

Lässt sich der Umfang, in dem der Konzern am Klimawandel beteiligt ist, überhaupt berechnen?

Verheyen: Das ist inzwischen gar kein Problem mehr. Wir haben dazu sehr viel Daten. Es gibt zum Beispiel eine Studie, die den weltweiten Anteil von großen CO₂-Emittenten mit statistischen Methoden herleitet, den Carbon-Majors-Report. Daraus geht hervor, dass RWE für 0,47 Prozent des globalen Klimawandels verantwortlich ist. Darauf stützen wir uns. 

Gibt es Erfahrungen damit, ob Gerichte diesen oder ähnliche Reporte anerkennen? RWE könnte ja auch mit einer eigenen Studie kommen. 

Verheyen: RWE hat den Bericht zwar methodisch kritisiert, aber dem bisher nichts Substanzielles entgegengesetzt. Der Bericht bildet die Grundlage des gerade veröffentlichten Berichts der Menschenrechtskommission in den Philippinen. Ergebnis: Die Carbon Majors sind mitverantwortlich für Menschenrechtsverletzungen durch den Klimawandel.

Im Mai haben Sie zusammen mit Vertretern des Oberlandesgerichts Hamm, vor dem der Prozess zurzeit läuft, sowie mit Sachverständigen und der Gegenseite das Haus des Klägers in Huaraz und die Laguna Palcacocha besucht.

Verheyen: Die Beweisaufnahme dauerte vier Tage, das war sehr intensiv. Die Sachverständigen bestimmten die Risikolage des Hauses meines Mandanten. Wir haben uns auch die Vorkehrungen angeschaut, die vor Überschwemmungen schützen sollen. Die Sachverständigen nahmen Proben und machten sich mit Drohnenüberflügen ein Bild. Es gab auch Anhörungen der zuständigen Behörden und der Regionalregierung.

Wie hat es sich angefühlt, vor Ort zu sein?

Für mich ist das nichts Neues, in einem Land des globalen Südens zu sehen, wie stark die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren sind. Der Verteilungskonflikt ums Wasser ist vor Ort in jeder Dorfversammlung spürbar. Aber für die Richter, für die Anwälte der Gegenseite und auch für die gerichtlich bestellten Sachverständigen war das, glaube ich, teilweise der erste Besuch in einem Land, in dem sehr viele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Ich habe mir vor dem Termin gesagt: Eigentlich muss ich da nicht hin. Denn die Sachverhalte sind klar. Das vom Gletscher kommende Risiko ist real. Und dass der Klimawandel das ausgelöst hat, ist klar.

Warum war es trotzdem wichtig, dabei zu sein?

Verheyen: Für meinen Mandanten war der Besuch sehr bedeutend. Lliuya besitzt ein Haus in der Stadt Huaraz, die ebenfalls durch die Gletscherschmelze bedroht ist. Aber sein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb, auf dem seine Familie Mais und Kartoffeln anbaut, liegt etwas höher in den Bergen in einem Dorf. Die dort lebenden Indigenen waren in Sorge, dass er die Lagune verkauft oder ein Wasserwerk baut. Diese Bedenken hat der Besuch gut zerstreut. Hinterher haben alle relevanten Gemeinden unser Anliegen unterstützt.

Der Gletscher hängt wie ein Damoklesschwert über Huaraz. Wenn Teile ins Tal stürzen, könnten viele Menschen sterben. Wie ist die Stimmung vor Ort?

Verheyen: Das ist wirklich ein scharfes Schwert, das sieht man an jeder Ecke: Überall sind Evakuierungsrouten ausgewiesen. Die Stimmung ist nicht akut bedrückt. Aber die Sorgen ums Wasser werden größer. Und dass die Gletscher verschwinden, macht den Menschen auch spirituell zu schaffen. Mehrmals habe ich gehört, wie erschütternd es für sie ist, dass die Berge bald nicht mehr weiß sein werden.  

Glauben Sie, dass Ihre Klage gute Chancen hat?

Verheyen: Ich habe immer gesagt, dass wir die Klage gewinnen können. Dazu stehe ich auch. Der Ortstermin hat dazu beigetragen, dass das Gericht das Risiko sieht. Es ist, glaube ich, für alle deutlich geworden, dass der Klimawandel die Lebensumstände der Bevölkerung extrem verändert. Das Sachverständigengutachten kommt hoffentlich Ende des Jahres. Dann wird es höchstwahrscheinlich eine gerichtliche Anhörung geben. Und dann sehen wir weiter. Wenn wir verlieren, werden wir Revision einlegen. Wenn wir gewinnen, tut RWE natürlich das Gleiche. So oder so führt aus meiner Sicht kein Weg am Bundesgerichtshof vorbei. Er muss abschließend klären: Gibt es im deutschen Zivilrecht eine Rechtsgrundlage dafür, wer die Kosten des Klimawandels tragen muss?

Mal angenommen, Sie gewinnen die Klage: Was hätte das für Auswirkungen?

Verheyen: Dann kann mein Mandant zu den örtlichen Behörden gehen und sagen: RWE beteiligt sich an den Kosten für eine großangelegte technische Maßnahme. Das heißt: Wasser ableiten, an einer anderen Stelle speichern und möglicherweise höhere Wälle bauen. Außerdem müssten andere Großemittenten dann davon ausgehen, dass ähnliche Ansprüche gegen sie erhoben werden. Mein Mandant könnte gegen Shell, BP, Total oder Kuwait Oil vorgehen. Nicht zuletzt könnte auch der Gesetzgeber reagieren. Es geht letztlich darum: Wer zahlt für die Folgen des Klimawandels? Dazu gibt es bisher in keinem Land der Welt ein Gesetz.

Warum haben Sie sich bei dieser Klage ausgerechnet für RWE entschieden und nicht für einen anderen großen CO₂-Emittenten?

Verheyen: Weil RWE auf der Liste der größten Verursacher weltweit steht, weil ich in Deutschland zugelassene Anwältin bin, und weil der Kontakt zu meinem Mandanten über die deutsche Umweltorganisation Germanwatch entstanden ist. Das hat keine weiteren Gründe. Wir haben völliges Neuland betreten. Das macht man nicht an fünf Stellen gleichzeitig.

Es ist weiterhin global der einzige Fall, bei dem eine Privatperson vor Gericht einen Anspruch gegen einen großen CO₂-Emittenten stellt.

Verheyen: Es gibt inzwischen zwar weltweit sehr viele Klimaklagen. Die sind aber meistens gegen Staaten gerichtet, zielen also darauf, dass Regierungen Klimaschutzmaßnahmen umsetzen. Manche richten sich zwar gegen Unternehmen, aber es gibt bisher keine andere Klimaklage, bei der eine Privatperson im zivilrechtlichen Verhältnis gegen ein Unternehmen steht. In Indonesien erheben private Betroffene gerade ähnliche Ansprüche gegen den Schweizer Baustoffproduzenten Holcim, aber formal ist das noch keine Klage.

Gegen Volkswagen vertreten Sie die Klage des Biobauern Ulf Allhoff-Cramer aus Detmold. Er sagt, die durch die Klimakrise ausgelöste Trockenheit gefährde seinen Hof und seine wirtschaftliche Existenz. Der Vorwurf: Mit seinem hohen CO₂-Ausstoß sei Volkswagen dafür mitverantwortlich. Was sind die Unterschiede zum Fall in Peru?

Verheyen: Der RWE-Fall orientiert sich nach hinten. Wir schauen uns das historische Verhalten an und fordern den Konzern auf, dafür Verantwortung zu übernehmen. Die VW-Klage richtet sich hingegen als Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch nach vorne: Volkswagen soll ab sofort höchstens 25 Prozent seiner Autos mit Verbrennungsmotoren ausstatten, und bis spätestens 2030 ganz aus dem Geschäft mit Benzin- und Dieselantrieben bei Pkw und leichten Nutzfahrzeugen aussteigen. Wenn – wie das Bundesverfassungsgericht 2021 gesagt hat – es ein CO₂-Budget gibt, dann gilt das auch für Unternehmen, die so viel emittieren wie ganze Staaten, und VW emittiert so viel wie Australien. Es geht um die Frage: Wie viel dürfen diese Unternehmen ab jetzt noch emittieren? Und wir sagen: Die Menge muss im Rahmen eines schlüssigen CO₂-Budgets bleiben. Diese Frage führte auch dazu, dass ein niederländisches Gericht den Energiekonzern Shell dazu verpflichtet hat, seinen CO₂-Ausstoß bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu senken.

2017 stellte das Oberlandesgericht Hamm fest, dass Privatunternehmen mit sehr großen Emissionen prinzipiell für den Schutz vor Klimarisiken verantwortlich gemacht werden können. Das haben Sie mit erwirkt. Wie fühlt es sich an, Rechtsgeschichte zu schreiben?

Verheyen: Gut! Das fühlt sich natürlich sehr gut an. Aber ich mache das ja nicht, um Rechtsgeschichte zu schreiben, sondern um meinem Mandanten zu helfen, auf das Problem aufmerksam zu machen, und vielleicht ein Urteil zu bekommen, mit dem wir dann weiterkommen. Ich habe in meiner Schublade eine Liste mit großen CO₂-Emittenten. Wenn dieses Verfahren vorbei ist und wir gewinnen sollten, dann schreibe ich die am nächsten Tag an, ist doch klar.

Ist Ihnen manchmal mulmig zumute – bei so vielen mächtigen Gegnern?

Verheyen: Nein. Ist mir nicht. Ich mache das ja nicht alleine, sondern mit Unterstützung von Mandanten und Verbänden. Im deutschen Rechtsstaat lebe ich aus Sicht einer Umweltjuristin auf einer Insel der Glückseligkeit. Ganz anders geht es meinen Kollegen vor allem im Süden, aber auch in den USA. Mir geht es so wie jedem, der etwas Großes, Neues beginnt. Da fragt man sich: Liege ich richtig? Oder mache ich etwas total Überspanntes oder Verrücktes? Aber ich finde, dass alle Ansprüche, die ich stelle, gerechtfertigt sind. Nicht ich bin die Geisterfahrerin.

Im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rächt sich unsere Abhängigkeit von russischem Gas. Plötzlich gibt es einen Tankrabatt. Macht der Krieg Ihre Erfolge ein Stück weit zunichte?

Verheyen: Im Moment werfen die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung noch nicht jeglichen Klimaschutz aus dem Fenster, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Aber die Debatte ist an vielen Stellen schwierig geworden. Ein Beispiel sind die LNG-Terminals. Ein anderes ist der Vorschlag zur Erdgasförderung in der Nordsee vor Borkum. Sowas wäre ohne den Krieg nie passiert. Natürlich wittern jetzt weite Teile der Gasindustrie Morgenluft. Umso bewundernswerter ist es, wie viel Aktivität das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gerade bei Wind und Solar entfaltet – aber es reicht eben noch nicht.

Weil ihnen in Sachen Klimaschutz zu wenig passiert, blockieren Aktivistinnen und Aktivisten zum Beispiel Straßen. Haben Sie dafür Verständnis?

Verheyen: Ich finde es wichtig zu betonen, dass auch Menschen, die den Verkehr blockieren, ihr legitimes Versammlungsrecht ausüben. Wir haben jetzt in Deutschland die ersten Urteile, die sagen, dass der Klimanotstand solche Demonstrationsformen rechtfertigt, auch in der Schweiz und in Großbritannien gab es das schon. Die Menschen von der Letzten Generation setzen sich selbst einem extremen persönlichen Risiko aus – weil sie der Auffassung sind, dass wir in einer so extremem Menschheitskrise stecken. Und sie haben ja Recht.

Sind Sie selbst manchmal verzweifelt?

Verheyen: Wenn ich rein wissenschaftsbasiert auf die Welt schaue, brauche ich keine Klage mehr anstrengen. Wir sind momentan so weit entfernt von dem, was wir eigentlich machen müssten, dass man sich fragt: Ist es überhaupt noch möglich, das Ruder rumzureißen? Die Politik der vergangenen 20 Jahre macht mich total wütend. Aber etwas in mir glaubt noch daran, dass wir die Transformation schaffen. Wir haben jetzt eine rot-gelb-grüne Regierung, die Dinge tut, die vor einem Jahr noch undenkbar waren. Der brasilianische Supreme Court schafft gerade Dekrete von Jair Bolsonaro ab, indem er sagt, das Pariser Abkommen sei ein Menschenrechtsvertrag. Es gibt solche Dinge, die einen hoffen lassen.