Wiederholt sich das Fischsterben in der Oder? Bundesumweltministerin Steffi Lemke im institut für Gewässerökologie und Fischereiwirtschaft.

Fischsterben in der Oder: Katastrophe mit Ansage

In der Oder droht sich das Fischsterben des letzten Sommers zu wiederholen – dabei sind die Ursachen der Katastrophe bekannt.

Polnische Bergwerke pumpen auch ein Jahr nach dem Fischsterben weiter Abwasser aus der Steinkohleförderung in Oderzuflüsse. Die Bergbaugruben laufen mit Grundwasser voll, das dort Kochsalz auswäscht. So entstehen ideale Bedingungen für die Alge Prymnesium parvum, an deren Gift die Fische im Sommer 2022 erstickten.

Doch das Salzwasser ist nicht der einzige Angriff auf das Ökosystem. Um die Oder schiffbar für größere Boote zu machen, sollen längere und höhere Buhnen eingezogen werden. In der Flussmitte fließt das Wasser dann schneller und gräbt sich tiefer. Dadurch gehen Lebensräume am Ufer und an der Flusssohle verloren.

Erschienen am 04.08.2023 in Süddeutsche Zeitung

Bilder und Text: Inga Dreyer und David Schmidt

Steffi Bartel rafft ihren Rock hoch und watet bis zu den Knien ins Wasser. Sie greift ins Flussbett und wäscht den Fund frei vom Sand: In ihren Händen liegen dunkle Muschelschalen in verschiedenen Größen, alle leer. Hier im brandenburgischen Kienitz, nur ein paar Schritte vom Deich entfernt, betreibt Bartel mit ihrem Mann einen Naturerlebnishof, die Gäste rudern und schwimmen im Fluss. Bartel geht jeden Tag ans Ufer und sucht die Badestelle nach Muscheln ab. „Das Wasser ist wie eine Lebensader für uns, die wir ganz gut kennen und verstehen“, sagt sie.

Steffi Bartel

Auf der stillen Oberfläche des Wassers spiegeln sich der blaue Himmel und weiße Wolken. Steffi Bartel kneift in der Mittagssonne die Augen zusammen. Die Oder fühlt sich an diesem Juli-Tag warm an, die Luft ist klar. Pferde grasen im Schatten einer kleinen Baumgruppe. Auf den ersten Blick erinnert nichts an die Katastrophe im vergangenen Jahr, als mehr als die Hälfte aller Tiere im Fluss starb und ihre Kadaver tagelang auf der Oder trieben.

Nur die Muscheln zeigen Besuchern unmittelbar, dass sich etwas verändert hat. Steffi Bartel holt aus und wirft die leeren Schalen weit in den Fluss, damit sich niemand an den scharfen Kanten schneidet. Bis zum Sommer 2022 waren immer lebende Muscheln darunter. Heute: Keine einzige.

Muscheln spielen eine tragende Rolle im Ökosystem. Sie filtern Algen, Phosphor und Stickstoff aus dem Wasser, bis zu 40 Liter in der Stunde. Aber dieses Jahr fehlen sie der Oder. Um bis zu 60 Prozent ist ihr gesamter Bestand nach der Umweltkatastrophe vergangenes Jahr zurückgegangen.

Prymnesium parvum: der kleine Tod

Ein winziges Wesen löste das große Sterben in der Oder aus, die Goldalge Prymnesium parvum. Sie blühte in Massen, vergiftete Millionen von Fischen, Muscheln und anderen Tieren, 1000 Tonnen Biomasse. Nach Zählungen des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) ging der Bestand einzelner Arten um bis zu 99 Prozent zurück. Ein Jahr ist das her.

Goldalgen sind fast durchsichtige, goldbraun schimmernde Einzeller. Sie paddeln durchs Wasser und jagen ähnlich winzige Wesen, die sie mit Gift betäuben und fressen. Für größere Tiere werden sie nur gefährlich, wenn sie in riesigen Mengen auftreten. Heimisch ist die Goldalge eigentlich in salzigem Brackwasser. Salzeinleitungen polnischer Bergwerke machten die Oder zu einem idealen Ort für die Alge, verstärkt durch Dürre, Hitze und den niedrigen Wasserstand im Hitzerekordsommer 2022. Auch in diesem Jahr brechen die Temperaturen wieder Rekorde und der Wasserstand ist niedrig. Ende Juli waren es 1,06 Meter in Frankfurt an der Oder.

Tote Fische gibt es auch diesen Sommer schon

Anders als 2022 treiben Goldalgen inzwischen überall in der Oder, eine Folge der Massenentwicklung des vergangenen Jahres. Das Risiko einer Katastrophe ist deshalb noch größer geworden. Und noch immer leiten Bergwerke salzige Abwässer in Zuflüsse der Oder. Kein Wunder daher, dass seit April wieder tote Fische in der Oder gesichtet werden. Zuletzt trieben im Juni 450 Kilo toter Fische in einem Kanal der Oder. Ende Juli wurde eine Tonne Fischkadaver aus dem tschechischen Oberlauf der Oder geborgen, flussaufwärts von den Salzeinleitungen der Bergwerke. Die Ursache wird noch untersucht, am wahrscheinlichsten scheint Sauerstoffmangel wegen Niedrigwasser. Von einer Vergiftung geht die Verwaltung derzeit nicht aus.

Aber flussabwärts der Bergwerke bleibt das Risiko dafür hoch. „Wir drohen sehenden Auges in die Wiederholung der Katastrophe zu laufen“, sagte die Bundesumweltministerin Steffi Lemke auf einer Pressekonferenz im Juni. Doch die Situation ändert sich nicht.

Die Abwasser-Einleitungen der Bergwerke sind weiterhin legal

Hunderte Kilometer landeinwärts von Kienitz, im durch Steinkohlebergbau geprägten Oberschlesien, strömt aus schmalen Rohren Abwasser der Bergwerke in Zuflüsse der Oder. Auch heute noch. „Man denkt: Was riecht denn hier so schrecklich? Und dann dreht man sich um und sieht die graue Brühe im Wasser“, sagt Nina Noelle. Die Greenpeace-Aktivistin war 2022 mehrmals in der Region, um Wasserproben zu nehmen und sie zu untersuchen.

Deutsche und polnische Umweltverbände sind sich einig: Ein Verbot der Einleitungen könnte der Alge Einhalt gebieten. In Polen darf das Abwasser eingeleitet werden, der Grenzwert liegt bei 1500 Milligramm Salz pro Liter. In Deutschland sind es 200. Die Grenzwerte seien ohnehin viel zu hoch, sagt Noelle. Doch die Proben, die Greenpeace im Oder-Zufluss Bierawka nahm, waren sogar salziger als die Ostsee.

Die Bergbaufirmen finden, sie tun genug

Was sagen die Verursacher zu diesen Vorwürfen? Von den drei Kohlekonzernen, deren Einleitungen Greenpeace 2022 untersuchte, antworten zwei auf Anfragen der SZ, die Bergbaufirma Polska Grupa Górnicza schwieg. Jastrzębska Spółka Węglowa verweist auf eine Entsalzungsanlage, die Speisesalz aus dem Minenwasser des Bergwerks Budryk gewinnt. Drei weitere Bergwerke seien an ein Rückhaltebecken angeschlossen, dadurch könne bei Niedrigwasser in der Oder die Abwassereinleitung für bis zu 20 Tage ausgesetzt werden. Nina Noelle reicht das nicht. Nach der Katastrophe hat Greenpeace in der Nähe der Entsalzungsanlage Proben genommen. Noelle sagt: „Wenn das Wasser, das da rauskommt, so salzig ist, dass eine Brackwasseralge darin blühen kann, scheint etwas nicht zu funktionieren.“

Die Bergbaufirma KGHM spielt ihre Rolle herunter: Die Goldalgenblüte habe mehrere Gründe, lässt die Firma verlauten und verweist auf eine Analyse des polnischen Umweltministeriums, die unter anderem die hohe Wassertemperatur und mangelnden Niederschlag anführt. Weder KGHM noch das Ministerium erwähnen den Salzgehalt als Ursache für die Katastrophe. Zwar mussten für die Algenblüte in der Tat mehrere Faktoren zusammenkommen, sagt Gewässerexperte Sascha Maier vom Bund für Umwelt und Naturschutz BUND. „Der hohe Salzgehalt in der Oder war aber der entscheidende Faktor.“ Zum gleichen Schluss kommt auch eine Analyse des deutsche Umweltbundesamts.

Sascha Maier, BUND (Privatfoto)

500 Kilometer frei fließender Fluss

Die Oder entspringt in Tschechien, fließt durch Polen und wird dann zum deutsch-polnischen Grenzfluss. Sie ist ein naturnaher, aber kein naturbelassener Fluss. Sie wurde begradigt und ausgebaut, diente während der Industrialisierung als wichtiger Wasserweg. Schon zu DDR-Zeiten aber habe sie sich teilweise selbst wieder naturalisiert, sagt Sascha Maier.

Von der letzten Staustufe bis zur Mündung in die Ostsee fließt der Fluss gut 500 Kilometer frei. Das ist gut für Wanderfische wie Stör, Meerforelle oder Ostseeschnäpel, die zu ihren Laichgründen zurückkehren. Verbauung und Fischfang haben aber dazu geführt, dass die Oder-Störe seit Jahrzehnten als ausgestorben gelten.

Seit Mitte der 1990er-Jahre arbeitet das IGB daran, den Baltischen Stör wieder anzusiedeln. Die eigentlich gute Wasserqualität und die Durchwanderbarkeit der Oder bieten gute Bedingungen, sagt Sven Würtz, der zusammen mit Jörn Geßner beim Wiederansiedlungsprogramm des IGB arbeitet. „Je naturnäher der Fluss, desto größer die Chance, dass sich eine Art wie der Stör dort wieder einfindet.“

Störe sind urzeitliche Fische, es gibt sie seit über 200 Millionen Jahren. Der Oder-Stör kann mehr als 100 Jahre alt und sechs Meter lang werden. Einige jüngere Exemplare ziehen in großen Becken auf dem Gelände des Leibniz-Instituts am Berliner Müggelsee ihre Bahnen. Die Störe schwimmen gemächlich an den Scheiben vorbei und scheinen Besucher aus ihren kleinen Augen zu betrachten.

Ein Stör vergisst nie den Geruch seiner Heimat

In der Oder bewegt sich der Stör meist in der Mitte des Flussbettes, direkt über dem Grund, wo er Wattwürmer und kleine Steine einsaugt, mit denen er die Nahrung zerkleinert. Auf seiner Reise durch den Fluss hin zur Ostsee macht der Stör an tieferen Stellen Rast, um dann weiterzuwandern – Hunderte Kilometer bis zur Mündung des Flusses. Dabei begegnen ihm Fische wie Güster, Blei, Stromgründling oder Kaulbarsch. Auf dem dunklen, sandigen Grund des Flusses, wo wegen der starken Strömung keine Pflanzen wachsen und wenig Licht hinfällt, gibt es nicht viel zu sehen. Doch der Stör schwimmt zielstrebig. Er orientiert sich am Magnetfeld der Erde und mithilfe seiner Barthaare, mit denen er tasten und riechen kann. Ein Stör vergisst nie den Geruch des Wassers, in dem er geboren wurde. Die IGB-Wissenschaftler wollen es schaffen, dass Störe aus der Ostsee zurück in die Oder finden und sich dort ohne menschliche Hilfe vermehren.

Sven Würtz, IGB

Die Oder-Katastrophe hat das Stör-Programm zurückgeworfen: In zwei Aufzuchtbecken an der Oder starben Jungtiere. „20 000 junge Störe, die qualvoll verendet sind. Das ist wahnsinnig deprimierend“, sagt Würtz. „Was mich noch stärker betroffen gemacht hat, war, dass auch die größeren Fische gestorben sind, die schon ein paar Jahre in der Oder gelebt haben.“ Die Wissenschaftler machen weiter und arbeiten daran, die Jungfische in den Becken an der Oder vor einer erneuten Algenblüte zu schützen.

Der Traum von den großen Schiffen

Die Algenblüte ist nicht die einzige Gefahr für die Natur in der Oder. Polen baut den Fluss zur Wasserstraße aus und beschleunigt seine Bestrebungen. Eine Autostunde südlich von den Störaufzuchtbecken steht ein Jeep am Oder-Deich beim polnischen Kostrzyn. Zwei Wissenschaftler verstauen gerade eine Drohne im Kofferraum. Sie haben Bilder und Videos gemacht, um den Oder-Ausbau zu dokumentieren. Jacek Engel von der polnischen Umweltschutzorganisation Greenmind Foundation unterhält sich mit ihnen. Engel deutet auf einen Streifen Kies, der parallel zum Ufer verläuft und den Flusslauf teilt. Diese sogenannte Buhne, eine Aufschüttung im Fluss, wurde erst vor ein paar Wochen gebaut. Sie verengt den Fluss künstlich, wodurch er in der Mitte schneller fließt. Die Oder soll sich so tiefer ins Flussbett graben und für größere Schiffe befahrbar werden. Etwas weiter südlich sind neben dem Fluss Kiesberge aufgeschüttet. Von hier aus werden die Steine auf Schiffe verladen, um an anderen Stellen der Oder Buhnen zu erneuern, sagt Engel.

Die meisten Buhnen verlaufen senkrecht zum Ufer. Diese sind so konstruiert, dass Tiere in die abgetrennten Pools schwimmen können, fischfreundlich. An der Oder werden schon seit dem 18. Jahrhundert Buhnen eingezogen. Mit der Zeit sind die flachen Bereiche dazwischen Laich- und Rückzugsorte für Fische geworden. Doch diese Ruhe soll wieder gestört werden. 2015 schlossen Deutschland und Polen einen Vertrag, die Oder für den Schiffsverkehr weiter auszubauen. Teile der Oder sollen für größere Schiffe passierbar werden, 1,80 Meter soll die mittlere Wassertiefe betragen. Für das neue polnische Schifffahrtsprogramm 2030 sind bis zu 2,50 Meter Tiefe geplant. „Polnische Politiker träumen von großen Schiffen wie auf dem Rhein und der Donau und verstehen nicht, dass das Wasser dafür nicht reicht“, sagt Jacek Engel. Für den Wasserstraßenausbau will Polen die bestehenden Buhnen erneuern, 16 Schleusen und vier Wehre modernisieren und zwei neue Stauanlagen bauen.

Jacek Engel, Greenmind Foundation

Klage ohne Wirkung

Nach dem Fischsterben hatten der BUND und weitere Umweltverbände auf einen Baustopp geklagt. Der Oberste Gerichtshof in Warschau hob die Genehmigung der polnischen Umweltbehörde zum Ausbau der Oder vorläufig auf, doch Polen setzt das Urteil nicht um. Im Juni sagte auch noch die Entwicklungsbank des Europarats geplante Finanzierungshilfen für den Oder-Ausbau ab. Aber auch das hält die polnischen Bagger bislang nicht auf.

Im Gegenteil: Am 14. Juli stimmte Polens Parlament für ein Gesetz, das Investitionen von umgerechnet 250 Millionen Euro in die Oder vorsieht, das „Sondergesetz zur Revitalisierung der Oder“. Was vielversprechend klingt, ist nur ein umweltfreundlicher Name für ein weiteres Ausbaugesetz. Zwar soll eine neue Behörde die Abwässer kontrollieren und die Strafen für Verstöße gegen die Abwasserordnung könnten bald drastisch steigen. Doch an den Ursachen der Katastrophe – den Salzeinleitungen – ändern die Maßnahmen nichts. Stattdessen sind weitere Stauseen, Wehre und Dämme geplant. Die giftige Goldalge profitiert obendrein vom Ausbau. Wo das Wasser stillsteht, erwärmt es sich schnell und dient der Alge als Brutbecken.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke forderte im Juni, den Fluss nicht weiter auszubauen. Das zuständige Bundesverkehrsministerium jedoch hüllt sich in Schweigen. Auch auf Anfragen dieser Zeitung zum Oderausbau kam keine Antwort.

Wasserstraßenausbau für die Wirtschaft

Vorteile von der Wasserstraße erhofft sich zum Beispiel die Industrie- und Handelskammer Ost-Brandenburg. Der Ausbau sei notwendig für den Gütertransport, weil Schiene und Straße überlastet seien, sagt Robert Radzimanowski, Leiter der Regionalpolitik. Auch unter den Landwirten auf deutscher Seite der Grenzoder finden sich Befürworter der Wasserstraßen-Instandsetzung, wie sie es nennen. Gudrun Wendt war bis vor Kurzem Geschäftsführerin eines Getreidehandelsunternehmens im Oderbruch, ihre Familie ist seit Generation in der Landwirtschaft. „Wir haben hier eine lebenswerte Kulturlandschaft, die von Menschen geschaffen wurde. Und die wollen wir erhalten“, sagt sie. Dazu gehöre auch, dass die Oder als Wasserstraße nutzbar sei. Sie spricht dabei nicht von einem „Ausbau“, sondern von „Buhnenerhaltungsbau“. Für Wendt zählt außerdem der Hochwasserschutz. Die Überflutungen von 1997 haben im Oderbruch tiefe Spuren hinterlassen. „Nicht nur die Landwirte, sondern alle Menschen, die hier leben, haben Angst, dass wir irgendwann wieder Hochwasser haben“, sagt Gudrun Wendt. Der Buhnenerhalt trage in ihrer Auffassung dazu bei, dieses Risiko zu verringern.

Ein Punkt, dem Umweltschützer und Wissenschaftler des IGB scharf widersprechen. Der Hochwasserschutz sei ein vorgeschobenes Argument, sagt Sascha Maier. Baumaßnahmen minderten die Gefahr nicht, dass der Fluss über die Ufer tritt. Stattdessen drohten durch einen Buhnenausbau andere Folgen, die auch die Landwirte treffen, sagt Jörn Geßner. Wenn sich der Fluss tiefer in die Landschaft gräbt, senke sich der Grundwasserspiegel ab. Das treffe die umliegenden Felder ebenso wie die naturbelassenen Auenlandschaften. Sie verlieren ihre Funktion als Retentionsflächen, die gerade gegen Hochwasser eigentlich so wichtig ist.

Außerdem beeinträchtigt der Ausbau auch die Regeneration des Flusses, warnt Sascha Maier. „Wenn die Oder eine Chance haben soll, mit solchen Katastrophen fertigzuwerden, brauchen wir einen funktionierenden Lebensraum und keinen Kanal.“

Ohrstöpsel gegen die Stille

Umweltaktivisten haben derweil Angst vor dem nächsten Fischsterben. Steffi Bartel hat nach dem vergangenen Sommer die Initiative „Save Oder Die“ mitgegründet. Der Schock sitzt bei ihr immer noch tief. Bartels Familie hat den Todeskampf der in der Oder treibenden Fische miterlebt. „Das war ein großer Schmerz. Meine Tochter war 14. Sie hat geweint und überlegt, die Tiere in die Badewanne zu setzen.“ Aber damals wusste noch niemand, was los war. War es gefährlich, die Fische zu berühren? Waren auch andere Tiere betroffen? „Wir hatten Angst, dass die Vögel vom Himmel fallen“, sagt Bartels Nachbarin Nana Karlstetter, die sich auch in der Initiative engagiert. Die Vögel fielen nicht, aber sie blieben stumm. In den Tagen des Fischsterbens war es an der Oder morgens so ruhig, dass sich Karlstetter Ohropax in die Ohren stopfte. „Weil die Stille so schrecklich war.“ Die Oder hat sich für ihre Anwohner spürbar verändert. Manchmal sitzt Steffi Bartel auf einer Brücke, an der in großen Lettern „#Save Oder“ geschrieben steht. Viele kleine Fische tummeln sich im Wasser davor. Doch große, springende sind seit vergangenem Jahr selten. In dem breiten Fluss lebt vieles, das von außen nicht sichtbar ist. Auf makabre Art hat die Katastrophe an die Oberfläche gebracht, wie vielen Tieren der Fluss Lebensraum bot.

Der Politik auf die Sprünge helfen

Mit Konzerten und Aktionen versucht die Initiative „Save Oder Die“ Aufmerksamkeit auf die Oder zu lenken. Sie vernetzen sich auch mit polnischen Aktivisten – etwa mit der Initiative Osoba Odra, zu deutsch „Person Oder“. Sie wollen dem Fluss juristische Eigenrechte zu verleihen– vertreten durch Menschen könnte der Fluss dann vor Gericht seine Rechte einklagen. Doch trotz des monatelangen Engagements sei auf politischer Ebene wenig passiert, sagt Nana Karlstetter, weit über die Situation an der Oder hinaus: „Einerseits werden Artenschutzabkommen, Klimaziele und Green Deals unterzeichnet und andererseits gibt es weder auf EU-Ebene noch auf regionaler Ebene auch nur den Hauch einer effektiven Lösungsstrategie.“

Protestgruppe „Save Oder Die“

Nach dem langen vergeblichen Kampf sind auch zynische Stimmen zu hören. Da vergangenes Jahr so viele Tiere starben, würde eine erneute Katastrophe zwangsläufig weniger dramatisch ausfallen, sagt Jacek Engel. Kann dem so verwundeten Fluss überhaupt noch großer Schaden zugefügt werden? Ja, sagt Christian Wolter, Gewässerökologe vom IGB. Denn letztes Jahr seien von allen Arten Tiere übrig geblieben, die sich unter guten Bedingungen fortpflanzen konnten. Die vielen jungen Fische bräuchten nun Zeit zum Wachsen und um selbst geschlechtsreif zu werden. Wenn jetzt wieder so ein massives Sterben einsetzt, würde das die Tiere erheblich reduzieren, die zur Reproduktion zur Verfügung stehen. Arten könnten dann ganz aussterben.

Der Fluss kann sich noch regenerieren

„Das Schlimmste wäre jetzt, wenn sich die Katastrophe wiederholt“, sagt Wolter. Wieso diese Gefahr noch nicht gebannt ist, verstehe er nicht. „Es gibt kein mir bekanntes Beispiel, bei dem man zugelassen hätte, dass zwei solche Katastrophen aufeinanderfolgen.“

Christian Wolter, IGB

Derzeit ist der Wasserstand der Oder niedrig. Aktuelle Untersuchungen des IGB zeigen eine hohe elektrische Leitfähigkeit, die auf einen hohen Salzgehalt hinweist. Außerdem ist die Chlorophyllkonzentration relativ hoch. Es gibt also viele Algen, wenn auch unklar ist, welche. Die Untersuchungen der Wissenschaftler zeigen beunruhigende Ergebnisse. Aber es gibt auch ermutigende Funde. Zwar sei die Anzahl der Muscheln seit dem großen Sterben noch weiter gesunken, sagt Christian Wolter. Ein positives Zeichen sei aber, dass es mehr Schwämme gibt als früher. Auch sie filtern das Wasser, wenn auch weniger effektiv als Muscheln. Sie könnten das Fehlen der Schalentiere vielleicht ausgleichen, sagt Wolter. Es gibt also Hoffnung, dass der Fluss vielleicht auch neue Wege findet, sich zu regenerieren.