Carlota Alvarado erinnert sich genau an den Tag, an dem die Erde zu beben begann
und plötzlich Lärm durch den dichten, grünen Wald hallte. Brauner Schlamm strömte den sonst so klaren Fluss Piatúa hinunter, Tiere rannten an seinem Ufer entlang.
„Wir hatten Angst“, sagt Alvarado. „Das ist unser Fluss, unser Lebensquell.“
Francisco Alvarado, der Bruder von Carlota, war einer der ersten, der an jenem Tag im Jahr 2018 in Richtung der Geräusche lief, die wie Explosionen klangen. Er entdeckte Maschinen und Mitarbeiter der Firma Generación Eléctrica San Francisco (Genefran S.A.) bei den Vorbereitungen für den Bau eines Wasserkraftwerks. „Alles war zerstört. Sie sagten zu uns: Bleibt ruhig, geht wieder nach Hause. Alles ist in Ordnung“, erinnert er sich. Aber nichts war in Ordnung. Nicht für die Kichwa, für die an diesem Tag ein Kampf um ihren Fluss und den Wald beginnt: ihre Lebensgrundlagen, ihre Glaubenswelt und ein einzigartiges Ökosystem.
Río Piatúa, Ecuador: Im Dezember 2022 trafen wir auf unserer Ecuador-Reise Mitglieder der Volksgruppe der Kichwa in einer kleinen, im Amazonasbecken gelegenen Stadt namens Santa Clara. Die Indigenen nahmen uns mit in den Regenwald und zeigten uns drei große, heilige Steine, die inmitten der reißenden Strömung des Río Piatúa liegen. Pläne für ein Wasserkraftwerk bedrohen den Fluss und die von ihm lebenden Menschen. In zwei Reportagen betrachten wir die Geschichte von ihrem Kampf um den Fluss, und nehmen dabei jeweils verschiedene Gesichtspunkte unter die Lupe. Die erste erschien im Februar als dreiseitige Wochenendbeilage in den Zeitungen der Südwest Presse und der Märkischen Oderzeitung, die zweite im April in der Zeitschrift 2050.
Carlota Alvarado erinnert sich genau an den Tag, an dem die Erde zu beben begann und plötzlich Lärm durch den dichten, grünen Wald hallte. Brauner Schlamm strömte den sonst so klaren Fluss Piatúa hinunter, Tiere rannten an seinem Ufer entlang. “Wir hatten Angst”, sagt Alvarado. “Das ist unser Fluss, unser Lebensquell.”
Francisco Alvarado, der Bruder von Carlota, war einer der ersten, der an jenem Tag im Jahr 2018 in Richtung der Geräusche lief, die wie Explosionen klangen. Er entdeckte Maschinen und Mitarbeiter der Firma Generación Eléctrica San Francisco (Genefran S.A.) bei den Vorbereitungen für den Bau eines Wasserkraftwerks. “Alles war zerstört. Sie sagten zu uns: Bleibt ruhig, geht wieder nach Hause. Alles ist in Ordnung”, erinnert er sich. Aber nichts war in Ordnung. Nicht für die Kichwa, für die an diesem Tag ein Kampf um ihren Fluss und den Wald beginnt: Ihre Lebensgrundlagen, ihre Glaubenswelt und ein einzigartiges Ökosystem.
Gemeinsam mit seinen Schwestern sitzt Alvarado unter dem Dach einer Holzhütte auf einer Lichtung im Regenwald. Die Ende-40-Jährige gehört zu den Kichwa, der größten indigenen Volksgruppe Ecuadors. Sie lebt in einem Dorf im ecuadorianischen Amazonastiefland. Ihre Familie und sie fischen und baden im Fluss, trinken sein Wasser, jagen Tiere im Wald, halten Hühner und bauen Pflanzen an. Leidet das Ökosystem, leiden auch sie.
Nur ein paar Meter weiter rauscht der Piatúa durch das steinige Flussbett. Carlota Alvarado, eine gewählte Vertreterin ihrer Gemeinschaft, erzählt. Ihre Stimme ist ruhig, ihr Gesicht ernst. An dieser Lichtung im Wald, die eine holprige, erst 2007 gebaute Straße mit der nächsten größeren Siedlung verbindet, empfangen die Geschwister Besucher und zeigen ihnen den Fluss, um den sich ihr Alltag und ihr spirituelles Denken dreht.
Mit 30 Megawatt CO2-neutral gewonnenem Strom im Jahr wäre das geplante Wasserkraftwerk vergleichsweise klein, zwei moderne Windräder schaffen genauso viel. Trotzdem hätte das Projekt gravierende Folgen – für den Fluss, die Indigenen, und für die Tiere im Regenwald, berichtet David Reyes von der Acción Ecológica, einer der größten Umweltorganisationen des Landes. Ecuadorianische Wälder gehören zu den Regionen mit der weltweit größten Biodiversität. Doch die Artenvielfalt wird durch viele Faktoren gefährdet, etwa durch den Abbau von Gold und Öl, Waldrodung und Infrastrukturprojekte. “In den meisten anderen Flüssen in der Region stehen schwere Maschinen, der Piatúa ist einer der wenigen Flüsse, die bisher davon verschont blieben”, erklärt Matthew Terry von der Fundación Río Napo.
Laut der Verfassung Ecuadors müssen Indigene konsultiert werden, bevor Konzerne in den Gebieten, in denen sie leben, Rohstoffe fördern oder Bauprojekte umsetzen dürfen.
Der Preis für den sauberen Strom sei hoch, sagt Reyes. Vorgesehen sei gewesen, das Wasser des Rio Piatúa in einen kleineren Nebenfluss umzuleiten. “Das Schlimme an diesen Projekten sind die wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Flussaufwärts von den Turbinen hätten die Menschen keinen Zugang zum Wasser mehr, weil sich das Wasser bei den Wasserkraftwerken sammelt.” Für die Mitglieder der indigenen Gemeinden sei der Fluss außerdem ein lebendiges Wesen. „Ihre Geister, ihr Glauben, ihr ganzes Leben dreht sich um ihn.”
Laut der Verfassung Ecuadors müssen Indigene konsultiert werden, bevor Konzerne in den Gebieten, in denen sie leben, Rohstoffe fördern oder Bauprojekte umsetzen dürfen. Allerdings ist nicht definiert, wie eine solche Konsultation im Detail aussehen soll. Die Vorgaben des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, die auch für Ecuador gelten, sind konkreter: Sie fordern nicht nur eine ausführliche Beratung über die Folgen eines Vorhabens, sondern auch die Zustimmung der Indigenen, sagt Natalia Greene, Expertin für die Rechte der Natur und Vertreterin der Global Alliance for the Rights of Nature (GARN).
Diese Gesetzeslücke werde von Firmen ausgenutzt. Oftmals präsentierten sie den Indigenen komplizierte technische Studien oder erläuterten bei einem Abendessen mit Gratis-Sandwiches, welche vermeintlichen Vorteile ein Erdöl-, Bergbau- oder Wasserkraft-Projekt für sie hätte. “Aber das ist natürlich keine ordentliche Beratung.”
Im Fall des Piatúa habe es keine Zustimmung gegeben, sagt Marlon Vargas, Präsident der CONFENIAE, dem Dachverband indigener Volksgruppen im Amazonasgebiet Ecuadors. Eine verbreitete Praxis sei, dass Unternehmen Vertreterinnen und Vertreter von Dorfgemeinschaften bestechen und sich so deren Genehmigung erkaufen.
Auch am Piatúa habe es ein Abendessen mit Informationen über das Projekt gegeben – lange vor dem Baubeginn, erzählt Carlota Alvarado. Man habe ihnen Arbeit und Geld versprochen. “Alles würde besser werden. Es sollte keine Verschmutzung geben.” Doch Carlota Alvarado war skeptisch. Von Wasserkraft hatte sie vorher noch nie etwas gehört. Deshalb sprach sie mit Vertreterinnen und Vertretern von anderen indigenen Gruppen. Sie erfuhr von einem anderen Wasserkraft-Projekt eines chinesischen Konzerns in der Provinz Sucumbíos, das unter anderem dazu geführt hat, dass der höchste Wasserfall des Landes verschwand.
Bei der Infoveranstaltung sei ein Formular herumgegeben worden, das die Teilnehmenden unterschreiben sollten. Man habe erzählt, das sei bloß eine Formalie, die die Teilnahme am Infogespräch bestätigen sollte. Zugestimmt aber hätten sie dem Projekt nicht, sagt Alvarado. Dementsprechend habe von den Bauarbeiten, die ihr Bruder Francisco im Wald entdeckt hatte, zuvor niemand von ihnen gewusst.
Gemeinsam organisierten die indigenen Gemeinden ihren Widerstand. Nachdem ihre Forderungen vonseiten der Kommunalpolitik unerhört blieben, klagten sie 2018 gemeinsam mit Umweltverbänden vor dem Provinzgericht. Gleichzeitig trugen sie ihren Protest auf die Straße. Videos zeigen, wie sie mit Speeren bewaffnet eine zentrale Verkehrsader des Landes lahmlegten. Über drei Monate hinweg bildeten mehrere hundert Männer und Frauen immer wieder Blockaden, bei einer Aktion vertrieben sie die Arbeitstrupps aus dem Wald. Sie gingen nicht zur Arbeit, die Felder lagen brach. Nicht nur der Verkehr, auch ihr Alltag stand still, erzählt Carlota Alvarado. Immer wieder wurden sie von der Polizei vertrieben. Doch sie kamen jedes Mal wieder zurück. “Wir hätten unser Leben dafür gegeben, dass der Fluss bleibt, wie er ist.”
Für die Kichwa und andere indigene Volksgruppen ist die Mutter Erde, die Pachamama, ein lebendiges Wesen.
Im Juni 2019 wies der Richter Aurelio Quito die Klage des Bündnisses ab, das daraufhin vor dem Provinzgericht in Berufung ging. Keine zwei Monate später wendete sich plötzlich das Blatt zugunsten der Kläger: Am 3. September wurde Aurelio Quito in einem Restaurant in der Stadt Puyo verhaftet. 37.000 Dollar in bar und zwei Flaschen Whiskey wollte er dort einem der für die Berufung des Piatúa-Falles zuständigen Richter übergeben. Damit wollte er ihn überzeugen, das erste Urteil zu bestätigen. Doch nachdem die beiden Zeit und Ort für die Übergabe vereinbart hatten, meldete der zweite Richter den Bestechungsversuch bei der Staatsanwaltschaft. Nur zwei Tage nach der Festnahme hob das Provinzgericht von Pastaza das erste Urteil auf und gab der Klage gegen das Wasserkraftwerk statt.
Die Konstruktion des Dammes sei ausgesetzt worden, solange sich das Unternehmen nicht an die festgelegten Vorgaben halte, sagt Esteban Donoso, der als Anwalt der Fundación Río Napo, einem der Kläger, mit dem Fall betraut war. Inzwischen aber deute einiges darauf hin, dass das Unternehmen einen weiteren Anlauf startet. Eine redaktionelle Bitte dieser Zeitung um Stellungnahme zu den Vorwürfen der Kläger und der Frage nach den weiteren Absichten hat Genefran S.A. bisher nicht beantwortet.
Carlota Alvarado lässt keinen Zweifel daran, dass sie bei drohender Gefahr sofort wieder auf die Straße gehen würde, um ihren Fluss zu schützen. Der Piatúa ist ein breiter und wilder Strom. Neben ihrer Schwester María läuft Carlota einen Pfad hinunter zum Wasser. Die Schwestern ziehen ihre Schuhe aus, waten durch die kalte, starke Strömung zur Mitte des Flussbettes und klettern auf einen der großen heiligen Steine, die hier liegen. Sie sitzen am Rande eines Wasserbeckens. Meerjungfrauen badeten darin ihre Kinder, berichten die Schwestern. Für sie sind der Fluss und seine Steine keine leblosen Gegenstände. Im Gegenteil: Auch sie haben Gedanken und Gefühle – und können wütend auf Menschen werden, wenn diese ihnen Grund dazu geben. Während die Schwestern erzählen, schwimmt ihr Bruder Francisco in der Abendsonne. Die letzten Lichtstrahlen glitzern im Wasser.
Für die Kichwa und andere indigene Volksgruppen ist die Mutter Erde, die Pachamama, ein lebendiges Wesen. Das Konzept der Rechte der Natur sei ein Versuch, Elemente der indigenen Weltanschauung in die Verfassung Ecuadors zu integrieren, sagt Natalia Greene, die an der Verfassungsreform von 2008 mitgewirkt hat. Ecuador war damals das erste Land, das Naturrechte verfassungsrechtlich verankerte. Die Natur ist seitdem nicht mehr nur Objekt von Rechtsprechung, sondern als Subjekt. Vor jedem Gericht kann in ihrem Namen geklagt werden. Was das bedeutet, zeigt sich am Fall des geplanten Wasserkraftwerkes am Piatúa.
Denn neben der mangelhaften Konsultation der Indigenen sei ein zweites zentrales Argument der Kläger gewesen, dass das Projekt die Rechte der Natur verletzen würde, sagt Greene. Mehrere Tier- und Pflanzenarten wären durch das Wasserkraftwerk in ihrer Existenz bedroht gewesen. “Wenn in Ecuador eine Straße gebaut wird oder ein Fluss in seinem Lauf beeinflusst, sterben ganze Spezies aus. Würde man die Natur fragen, was sie will, würde sie sagen: Ich will dieses Projekt nicht, es schadet mir.”
Im Trubel um den Korruptionsskandal seien die Argumente zu den Rechten der Natur in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund geraten, sagt Greene. Außerdem seien diese in dem Urteil überhaupt nicht beachtet worden. Deshalb sind die Kläger ans Verfassungsgericht des Landes herangetreten. Tatsächlich haben die Richterinnen und Richter den Piatúa als einen von wenigen Fällen pro Jahr ausgesucht, die sie eingehender untersuchen wollen, sagt Esteban Donoso. “Das zeigt uns, dass sie daran interessiert sind, tief in den Fall einzusteigen.” Die Kläger erhoffen sich eine grundsätzliche Aussage des Gerichts zu Naturrechten und dem Schutz von Flüssen.
An vielen Orten im Land wehren sich Indigene gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und kämpfen um die Zukunft ihrer Kulturen.
Auch ein zweites Anliegen mit Bezug zum Piatúa will das Verfassungsgericht verhandeln. Dabei geht es darum, wie genau Konsultationen von Indigenen aussehen müssen. An vielen Orten im Land wehren sich Indigene gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und kämpfen um die Zukunft ihrer Kulturen. Für sie alle könnte die Verhandlung bedeutungsvoll sein. Die Indigenenverbände, GARN und die Fundación Río Napo setzen in die Anhörungen große Hoffnungen.
Um den Fluss dauerhaft zu schützen, haben Indigene die Gruppe Piatúa Resiste gegründet. Einer von ihnen ist der 26-jährige Alexis Grefa. Wie die Alvarados stammt auch er aus einem der von dem Bauvorhaben betroffenen Kichwa-Dörfern, aus Chonta Yaku. Über soziale Medien und Besuche von Konferenzen wie der COP27 in Ägypten möchte er international Bewusstsein für die Belange Indigener wecken und um Unterstützung für den Erhalt des Regenwalds werben. Sich so zu exponieren, sei nicht ungefährlich, sagt Grefa, der von Anrufen Unbekannter und Todesdrohungen berichtet.
Doch Sorgen macht sich Grefa vor allem um die Zukunft des Amazonas. Immer wieder würden die Rechte der Natur verletzt: “Das ist nur Papier. Sie stehen zwar in einer Verfassung, aber es wird nicht umgesetzt.” Ein Grund sei, dass sich noch nicht alle Richterinnen und Richter mit dem Konzept auskennen, sagt Natalia Greene. Bis es verstanden und konsequent umgesetzt werde, brauche es Zeit. Auch die Einführung der Menschenrechte sei ein großer Schritt gewesen – aber trotzdem bedeute das nicht, dass sie überall und jederzeit gewahrt würden.
Carlota Alvarado wünscht sich, dass die Autoritäten den Indigenen mehr zuhören. “Uns, den Menschen vom Land. Verkauft den Río Piatúa nicht. Lasst ihn uns und unseren Kindern.” Unternehmen sähen im reißenden Strom in erster Linie eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, sagt sie. Die Menschen vor Ort aber bräuchten keinen Luxus, sie bräuchten den Fluss. “Wenn sie den Piatúa zerstören, wovon leben wir dann?”